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Monografie · von Paolo Bianchi · S. 192 - 209
Monografie , 2005

Paolo Bianchi
DAGMAR VARADY

Vom „Virus Novalis“ Befallen

I. Die romantische Revolution

Kaum ein zeitgeschichtlicher Begriff löst einen so vieldeutigen Chor der Interpretationen aus, wie jener der Romantik. Es ist das romantische Lebensgefühl, das alles mit allem in Beziehung setzen und alles miteinander verwoben wissen will. Es ist das romantische Denken, das den Moment des kreativen Gegensatzes liebt, es ist ein zyklisches Denken, das sich kreisend statt gradlinig fortschreitend entfaltet. Die romantische Bewegung, vor allem in Deutschland, führte zu einer eindrucksstarken Bewusstseinserweiterung in den verschiedensten Richtungen: zur Wiederentdeckung des Dionysischen als schöpferischem Prinzip in der Kunst, zur Erschliessung von Mythos und Märchen und zur Wiedereinsetzung der spielerischen Phantasie im literarischen Schaffen, zur Wiederbelebung der mystischen Spiritualität für das religiöse Leben, zur Begründung der Naturphilosophie, zur Hinwendung an die Frühgeschichte der Menschheit und an vorzivilisatorische Völker und nicht zuletzt zur Entdeckung des Unbewussten.

Das Denken eines Frühromantikers wie Novalis (1772–1801) umkreist im Wesentlichen die eigene Person. Das Leben des Einzelnen – und als Utopie das Leben aller Menschen – soll dem Kunstwerk gleichen, das alle sinnlichen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen zu einem je einmaligen Ganzen formt. Von dieser Vorstellung aus ergeben sich fliessende Übergänge zwischen Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion, die nicht mehr als getrennte Fakultäten, sondern als sich gegenseitig befruchtende Äusserungen des zur Einheit strebenden Geistes aufgefasst werden. Joseph Beuys sah seine Wurzeln in der deutschen Romantik, daher setzte er synonym: «Kunst=Mensch=Kreativität=Wissenschaft».

Der Oxforder Philosoph Sir Isaiah Berlin (1909–1997) war überzeugt davon, dass wir westliche Menschen in unserer Haltung zur Welt und in…


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