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Titel: Weltkunst - Globalkultur · von Jeff Wall · S. 257 - 259
Titel: Weltkunst - Globalkultur , 1992

Jeff Wall
Der Geschichtenerzähler

RUINIERTE FIGUR DER HISTORISCHEN ERINNERUNG

Die Figur des Geschichtenerzählers ist ein Archaismus, ein sozialer Typus, der infolge der technologischen Umwandlung dessen, was einmal “Bildung” gewesen ist, seine Funktion verloren hat. Sie ist an den Rand der Moderne gedrängt worden und vegetiert dort als ein – allem Anschein nach toter – Restposten der Phantasie dahin, als nostalgischer Archetyp oder anthropologische Rarität. Wie Walter Benjamin gezeigt hat, verkörpern sich in solchen ruinierten Figuren gleichwohl wesentliche Elemente der historischen Erinnerung, der Erinnerung an Werte, die vom kapitalistischen Fortschritt marginalisiert werden und gründlich vergessen erscheinen. Solche Erinnerungen gewinnen ihre Kraft in Augenblicken einer krisenhaften Zuspitzung zurück. Und eine solche Krise ist die Gegenwart. Eine solche Neubelebung geht mit ebenjenem Prozeß einher, in dessen Verlauf an den Rand gedrängte oder unterdrückte Gruppen ihre eigene Geschichte wiedererlernen und sich diese neu aneignen. Dieser Prozeß ist in vollem Gange, und sein Einfluß verwandelt auch die Standardkriterien dessen, was man als “Bildung” bezeichnen könnte. Dabei eröffnen sich aber auch Chancen für neue Vorstellungen von einer modernen Kultur, die nicht so einseitig zukunftsorientiert ist wie jene, die gegenwärtig in Europa und Nordamerika noch immer bestimmend ist.

Die eingeborenen Völker Kanadas sind ein typisches Beispiel für diese Enteignung. Bei ihnen haben – wenn auch in abgeschwächter Form – die Traditionen der oralen Geschichtsüberlieferung und der wechselseitigen Unterstützung und Hilfeleistung bis heute überlebt. In der Figur des Geschichtenerzählers wird ihre historische Krise daher besonders deutlich. Der Schwerpunkt der “nativen” Erziehung liegt deshalb auf der Wiedergewinnung einer kulturellen Identität, und dies…


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