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Essay · von Hermann Pfütze · S. 184 - 191
Essay , 2004

HERMANN PFÜTZE
“DIE FORM IST IMMER DER GEGNER” (GEORGE STEINER)

ZUR GEWEBESCHWÄCHE DES ERWEITERTEN KUNSTBEGRIFFS

1.

Der vor allem von Joseph Beuys in den 70er Jahren popularisierte “erweiterte Kunstbegriff” hat die ästhetische Urteilskraft enorm befördert – allerdings mehr die Kraft, weniger die Qualität der Urteile. Anders als die Erweiterung etwa des Gewaltbegriffs auf ungegenständliche, sprachliche oder strukturelle Zumutungen oder des Sprachbegriffs auf sog. Computersprachen und Datenübermittlungssysteme, hat der erweiterte Kunstbegriff den kreativen Vergnügungen und der ästhetischen Neugier wirklich Vorschub geleistet. Mehr noch: Während “Sprache” als elektronisches Zeichensystem buchstäblich nichtssagend ist und der erweiterte Gewaltbegriff wirkliche Gewalt verharmlost, dafür aber die Beziehungen versteinert, umfasst der erweiterte Kunstbegriff alles, was in irgendeiner Form sinnfällig ist und als Material ästhetisiert werden kann: Schneebälle und Körperausscheidungen, amorphe Stoffe wie Fett, Staub und Wasserdampf, sowie alle nur möglichen Äußerungen, Bewegungen und Geräusche. Fragen der Kunst und des Schönen sind, anders als Fragen des Wissens und der Wahrheit, seit der Aufklärung nicht mehr Expertenprivileg, sondern alltäglich vertraut geworden.1 Der erweiterte Kunstbegriff umfasst nämlich auch all das, was, um Boris Groys zu paraphrasieren, schließlich n i c h t sich als Kunst durchsetzt.

Er erstreckt sich nicht nur auf Materialien und auf die Ästhetisierung des Gewöhnlichen, sondern meint auch die innere Erfahrung von Kunst – ähnlich der inneren Erfahrung von Religion, Wissen oder Macht. Was macht die Lektüre eines Gedichts oder die Begeisterung für Beuys mit mir, wie wirkt sie sich aus auf mein Weltverständnis? Bleibe ich davon unberührt und nehme Beuys sozusagen nur zur Kenntnis, oder ändern sich mein Weltbild…


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