Michael Hübl
Mit weißen Spinnenbeinfingern
Die Wirklichkeit hat aufgehört sich zu verstecken
Schreiben, zeichnen, aufzeichnen oder – im doppelten Wortsinn – verzeichnen, sprich: schriftlich fixieren, respektive zeichnend verstümmeln, vielleicht auch nur verschlüsseln: Wie diese Vorgänge ineinander greifen, lässt sich bei Tony Cragg ablesen. Der Künstler hat ganze Serien von Blättern hervorgebracht, die angesichts seines plastischen Ouvres durchaus unter der Rubrik Bildhauerzeichnungen zu verbuchen wären. Tatsächlich sind sie eine Art Tagebücher. Oder eher Sudelbücher in Sinne Georg Christoph Lichtenbergs, geeignet, Einfälle und Beobachtungen rasch und ungefiltert festzuhalten. Lichtenberg freilich legte Wert auf Klarheit, während Cragg verunklärt. Seine Federzeichnungen sind als fortlaufender Text geschrieben, wobei sich der Eindruck dreidimensionaler Formen ergibt. Die aber sind dermaßen ineinander verschlungen, dass sie den Sinn der Notate verschlingen: Außer einigen Satzfragmenten und Wortfetzen ist aus dieser ‚écriture automatique‘ nichts herauszulösen. Dabei reizt die Undurchschaubarkeit dazu, nur noch genauer hinzusehen, um dem Künstler womöglich doch auf die Schliche zu kommen; das hieße, eine versteckte Botschaft aus dem Dickicht unkenntlicher Information zu befreien. Diese Methode, so etwas wie einen kryptischen Gegenentwurf zur oberflächlichen Selbst-Verständlichkeit der Dinge und Verhältnisse herzustellen, hat nicht zuletzt in der neuen Kunst oft genug Anwendung gefunden, sei es bei Toine Hovers mit seinen handgeschriebenen Büchern (wie „Inis Oirr panorama“, 2006) und seinen Überschreibungen von Fotografien (wie etwa „Tim Etchells‘ selfportrait, 2008), sei es in den Graphiken von Carlfriedrich Claus („Handreflexion“, 1974; „Wechselwirkung Sprechen Schweigen“, 1988/89) oder in den langen Textpassagen, die Jochen Gerz mit einer rotbraunen Abdeckfarbe aus den Labors der analogen Fotografie in Spiegelschrift zu…