Mnemosyne: Auf Spurensuche nach archivarischen Bilderfährten
von Michael Krajewski
Wir produzieren so viele Bilder wie nie zuvor: Repräsentationen von Ereignissen und Dingen, eigenständige Bildfindungen und ganz besonders Reproduktionen von Kunstwerken. Nie zuvor gab es so viele Möglichkeiten, sie zu erzeugen, zu transportieren, zu verwerten und abzuspeichern. Nie zuvor war die Verantwortung so groß, sie in Archiven oder Datenbanken zu erhalten und zu sichern, die Frage so dringend, nach welchem System geordnet: chaotisch, kumulativ, chronologisch, indexikalisch?
In welchem Verhältnis steht dazu ein Projekt, das vor nahezu einem Jahrhundert mit Hilfe von einfachen Schautafeln und angehefteten Reproduktionen von Kunstwerken arbeitete? In einer Zeit, die Diaprojektoren, Bildkataster, Mikrofilme und Fotokarteien kannte, unternahm ein Kunsthistoriker den Versuch, einen Teil der Welt durch Bilder ihrer Kunstwerke zu kartografieren und ihren verborgenen Wandlungen durch Zeit und Raum (rund um das Mittelmeer) nachzuspüren.
Aby Warburgs (1866 – 1929) bis in die 80er Jahre randständige Forschung, mittels Reproduktionen Kunstwerke zu filtern, zu ordnen und zwischen ihnen tiefenpsychologische und kulturübergreifende Brücken zu schlagen, rückt immer mehr in den öffentlichen Blick. Sein in ein Buch mündendes Projekt des Bilderatlas Mnemosyne – 1929 in Statu nascendi stehengeblieben – konnte rekonstruiert und 2020 opulent als Großfoliant mit dem Untertitel The Original publiziert werden.1
Eine begleitende Ausstellung inszenierte die dort farbig abgebildeten 63 Schautafeln und 971 angepinnten Reproduktionen im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, der Bundeskunsthalle Bonn und in der Sammlung Falckenberg Hamburg (Deichtorhallen) als imposantes Panorama. [01] Diese ästhetische Nobilitierung der didaktischen, ursprünglich eher ärmlichen Medien folgt natürlich in der zeitgenössischen Kunst durchgesetzten Konventionen – schon…