Unruhe in den Archiven
Künstler und Kuratoren auf der Suche nach einer neuen Geschichtsschreibung
von Claudia Steinberg
Schon seit einem Vierteljahrhundert ist das Archiv längst kein abgeschiedener Ort mehr, wo unumstößliche Ordnung waltet und so tiefe Stille herrscht, dass die amerikanische Dichterin Susan Howe zwischen dem Rascheln des Papiers telepathisch Stimmen aus fernen Zeiten vernimmt. Die wilde und fragile Bilderflut der elektronischen Medien – Okwui Enwezor sprach von einem „immensen, formlosen Imperium der Bilder“ – droht ohne bewusste archivarische Intervention als Datenwolke der Entropie entgegenzuschweben oder zumindest der Unüberschaubarkeit anheimzufallen. Dieser Immaterialität stellen Künstler auch immer wieder Objektarchive von persönlicher Bedeutsamkeit entgegen.
So breitete der chinesische Künstler Song Dong 2008 sämtliche Besitztümer, die seine Mutter, Zhao Xiangyuan, vor allem nach dem Tod ihres Mannes, unermüdlich akkumuliert hatte, im Atrium des MoMA aus – sogar einen Teil des elterlichen Holzhauses hatte er aus Peking importiert. Unter dem erdrückenden Vakuum der zwanzig Meter hohen Decke wirkte die Masse billiger Alltagsobjekte und die Unmenge gehorteter Wegwerfgegenstände, mit denen die Witwe gegen die Menschenleere ihres Heims anging, ebenso wertlos wie existenziell. Es ist nur die unbestechliche Taxonomie, der Song Dong den armen Hausrat unterwarf, die ihn vom Junk zum Archiv erhebt. [01]
Rund drei Jahrzehnte vor Dongs Memorial mit dem Titel Waste Not in New York und lange bevor die Kunst in den Cyberspace abhob, hatte Harald Szeemann bereits die komplette Einrichtung seines Großvaters, eines Friseurs ungarischer Abstammung, in seiner eigenen Wohnung in Bern ausgestellt: Die 1200 Objekte aus der Hinterlassenschaft von Étienne Szeemann sollten sich zu einem…