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Magazin: Publikationen · von Thomas Kornbichler · S. 212 - 213
Magazin: Publikationen , 1985

Thomas Kornbichler
Psychoanalytische Kunstinterpretation nach Freud

Als Freud seine psychoanalytischen Schriften zu publizieren begann, war die feine Welt der österreichischungarischen Doppelmonarchie schockiert. Der Außenseiter Freud, der seinen Ehrgeiz darein gesetzt hatte, in eben dieser feinen Welt Karriere zu machen, er konnte sein Außenseitertum nicht verleugnen und sah sich diese Gesellschaft von außen an. Was er dabei entdeckte, das waren verdrängte kollektive Innenwelten, die nicht ins Selbstbild der feinen Gesellschaft paßten.

Vor allem die Wissenschaft wehrte sich gegen Freuds Zumutungen. Anders die Künstler: sie, die sich zum Großteil aus Außenseitern rekrutieren, verstanden die Hintergründe, denen Freud auf die Spur gekommen war. Auf ihre Weise hatten Künstler wie Henrik Ibsen, Arthur Schnitzler und später die Surrealisten Verwandtes zum Ausdruck gebracht.

Freud blickte mitunter scheeläugig auf die Produkte künstlerischer Phantasie und philosophischer Intuition, denn in ihnen fand er nicht selten Erkenntnisse formuliert, denen er selbst in mühseliger wissenschaftlicher Kleinarbeit, im Gespräch mit seinen Patienten und in den Stunden der Selbsterforschung auf die Spur gekommen war. Aber nicht deshalb wurde Freud von der Kunst so sehr angezogen. Vielmehr war er ja selbst ein Künstler, der im schöpferischen Umgang mit der Sprache dem oftmals trockenen Wissenschaftsjargon die besten Seiten abzugewinnen verstand.

Nicht selten ist heute die Einschätzung zu hören, daß Freud gar nicht so sehr als Psychologe, sondern vielmehr als Schriftsteller, als Künstler, in Zukunft geschätzt werden wird. Diese Behauptung erscheint fragwürdig, doch wie an so vielem, ist auch in dieser Einschätzung ein Körnchen Wahrheit enthalten. Freuds reduktionistische Triebpsychologie mit ihrer Sexualmythologie gilt als überholt und wurde von seinen Nachfolgern bereits einige Male umformuliert.

Im Nachhinein erhalten damit auch diejenigen Kunstwissenschaftler ihr Recht, die sich schon früh gegen die einseitig sexualpsychologischen Ausdeutungen von Künstlern und deren Werken zur Wehr gesetzt hatten. Bis heute ist bei Künstlern, Kunstliebhabern und professionellen Kunstinterpreten regelmäßig neben einem interessierten Augenzwinkern eine skeptische Zurückhaltung zu verzeichnen, wenn das Gespräch auf die psychoanalytische Kunstinterpretation gelenkt wird. Und das mit Recht, denn die frühen psychoanalytischen Studien über Kunst und Künstler waren selten so feinsinnig wie die Interpretationen Freuds, die sich zuweilen selbst schon durch krasse Einseitigkeiten auszeichneten. Ein Beispiel hierfür ist etwa Edmund Berglers Aufsatz “Zur Problematik des ‘oralen’ Pessimisten”, die er an Grabbe demonstrierte.

Allein, man wird der tiefenpsychologischen Kunstinterpretation nicht gerecht, wenn man sie an diesen Maßstäben mißt. Mit der Entwicklung der Psychoanalyse hin zu einer Kulturpsychologie, die nicht mehr Triebpsychologie, sondern Ich-Psychologie sein will, haben sich auch die Voraussetzungen tiefenpsychologischer Kunstinterpretation gewandelt. Die synthetisierende Fähigkeit des menschlichen Ichs ist in das Zentrum wissenschaftlicher und therapeutischer Bemühungen gerückt, womit Anregungen “unbewußt” aufgenommen wurden, die zu Beginn unseres Jahrhunderts von Alfred Adler gegeben worden waren, der in seiner Individualpsychologie dem Ganzheitsgedanken eine zentrale Stellung einräumte. Der Mensch war ihm nicht ein Sammelsurium von Partialtrieben, sondern eine strukturierte Einheit, in der Gedanken, Emotionen, Triebe usw. sinnvoll aufeinander bezogen sind.

Dieser Gedanke ist grundlegend für die neopsycho-analytische Ich-Psychologie und bildet den Ausgangspunkt all der Aufsätze, die jetzt in dem von Hartmut Kraft zusammengestellten Band “Psychoanalyse, Kunst und Kreativität heute” herausgegeben wurden. Dieses Buch ist sehr zu begrüßen, denn es füllt eine breite Lücke in der bisherigen Literatur zum Thema und ist geeignet, den Eindruck zu relativieren, den die frühen orthodoxen psychoanalytischen Kunstinterpretationen hinterlassen haben.

Hartmut Kraft hat dem Buch eine solide Einführung in das Thema vorangestellt, die mit dem Kunstverständnis Freuds, den neueren Entwicklungen der Psychoanalyse und den damit verbundenen Kunsttheorien vertraut macht. Von Kraft stammen auch zwei der sechs konkreten Analysen bildender Kunst im zweiten Teil des Buches, wobei er eine große Sensibilität und Einfühlungsfähigkeit an den Tag legt, die selbst einer derart schwierigen Aufgabe wie der Analyse von Ferdinand Hodlers Werkzyklus über Valentine Godé-Darel gewachsen sind. Ferdinand Hodler, der letztes Jahr mit großen Ausstellungen in Berlin, Paris, und Zürich endlich angemessen gewürdigt wurde, wird als Mensch dargestellt, der mit seinen künstlerischen Mitteln seine eigensten Erlebnisse gestaltet und dadurch seine schmerzvolle Situation überwunden hat.

Die Frage nach der “Psychodynamik der Kreativität” ist der Ausgangspunkt aller neun Texte des ersten Teils. Da die Autoren den Menschen nicht mehr wie Freud von der Triebsphäre her denken, sondern ich-psychologisch erfassen, d.h. als gestaltendes Subjekt begreifen, können sie auch das Formproblem in der Kunst weitaus tiefgründiger analysieren, als dies bei Freud der Fall war, der sich hierfür als nicht zuständig erklärte. Ihn hatten primär die Inhalte von Kunstwerken interessiert, die er mit der Biographie des Künstlers in Verbindung setzte.

In dieser Hinsicht haben die Autoren Kuiper, Winnicott, Muensterberger, Ehrenzweig, Müller-Braunschweig, Bush, Noy, Auchter und Kohut dem Begründer der Psychoanalyse einiges voraus. Dies trifft nicht zu, was die Anbindung des Themas an die philosophische Diskussion, an die philosophische Ästhetik anbelangt. Die Autoren sind überwiegend Mediziner, Psychiater, Psychoanalytiker und Psychologen. Die Kunsthistoriker bilden die Ausnahme. Ob es mit an dieser Zusammenstellung liegt, daß die Auseinandersetzung mit markanten Positionen zeitgenössischer Ästhetik unterblieb? Aber Freud war auch Arzt gewesen und hatte sich trotzdem mit ästhetischen Theorien seiner Zeit auseinandergesetzt, von denen es im 19. Jahrhundert nicht gerade wenige gab. Oder ist den genannten Autoren die Psychoanalyse schon so sehr auch zur alleingültigen Philosophie geworden, daß sie sich nach anderen Philosophen nicht mehr umsehen wollen?

Die Analysen von Künstlern und Kunstwerken im zweiten Teil des Buches beschränken sich auf die Bildende Kunst. Wandten sich die orthodoxen Psychoanalytiker hauptsächlich den Klassikern vergangener Jahrhunderte zu, so findet der Leser hier ausschließlich Studien zur modernen Kunst: Klee, van Gogh, Kirchner, Hodler, Concept Art und Mark Prent bilden ein weites Spektrum thematischer Vorgaben.

Nicht einzusehen ist, weshalb sich der Herausgeber ausschließlich auf Bildende Kunst konzentrierte? Ob hier auch verlegerische Überlegungen im Spiel waren, da zu psychoanalytischen Literaturinterpretation bereits Veröffentlichungen vorliegen? Doch zur Kunst zählen auch noch die Architektur und die Musik, das Theater und der Film. Wer hierüber mehr aus tiefenpsychologischer Sicht erfahren will, bleibt auch weiterhin auf verstreute Aufsätze hierzu angewiesen, die oftmals in schwer zugänglichen Zeitschriften verborgen sind.

Hartmut Kraft (Hrsg.): Psychoanalyse, Kunst und Kreativität heute. Die Entwicklung der analytischen Kunstpsychologie seit Freud. DuMont Buchverlag, Köln 1984, DM 24,-, 370 Seiten.

von Thomas Kornbichler

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