Vom Kunsturteil
zum Kunstnurteil
Kritik in Zeiten von Digitalität, Dividualität, Quantified Self und Crowd Criticism
von Jörg Scheller
1. Individuelle Ursprünge
Das Geschäft des Kritisierens und Beurteilens von Kunst ist traditionell ein einsames Geschäft. Der konzentrierte Besuch einer Ausstellung. Das Hin- und Herwälzen von Gedanken. Die vor- und nachbereitende Lektüre in der Bibliothek. Das nächtliche Eintippen von Begriffen in Suchmaschinen. Die Niederschrift des Textes. Die Signatur des Autors. Die Verantwortung des Autors. Die Verantwortungslosigkeit des Autors. Der Ruhm des Autors. Das Scheitern des Autors.
Mag den verfertigten Texten auch soziale Interaktion vorangegangen sein, mögen Kritiker mit Künstlern, Wissenschaftlern, Sammlern oder Museumsdirektoren regen Austausch gepflegt haben: Das Alleinstellungsmerkmal der Kunstkritik der westlichen Moderne war und ist es, dass sie von – ihrem Selbstverständnis nach – unabhängigen Individuen verfasst und, in Analogie zu den Kunstwerken, auf die sie sich bezogen, von Individuen signiert wurde. Aus der Geschichte überliefert sind Kritiken und Urteile einzelner Autoren, verfasst unter ihrem eigenen Namen oder, in Zeiten von Zensur und Verfolgung, unter Pseudonymen. Hier die Schreiber, da die Leser. Kritikerkollektive? Prosumenten? 1 Bestenfalls Randerscheinungen.
Der mutmaßlich erste unabhängige Kunstkritiker der westlichen Moderne, Étienne La Font de Saint-Yenne (1688–1771), verkörperte den Typus des lonesome rider oder besser gesagt lonesome writer auf nachgerade idealtypische Weise. La Font publizierte seine Kritiken illegal, ohne Autorisation durch die königliche Akademie, betonte die Eigenständigkeit seines Urteils und zugleich dessen Allgemeingültigkeit. Nicht Profi-Kritiker mit routiniertem und formalisiertem Ansatz seien gefragt, sondern, so La Font, „un spectateur désinteressé & éclairé, qui sans manier le pinceau, juge par un goût naturel & sans…