EDGAR SCHMITZ
Cruel and Tender
“The Real in the Twentieth Century Photograph”
Tate Modern, London, 5.6. – 7.9.2003
Erst mal geht es bei diesem Überblick über Formierungen des Realen in und durch die Fotografie im 20. Jahrhundert um Archivarisches und damit um ein Erfassen der Welt, das sich hier immer wieder mit Inszenierungen überschneidet. Bei Thomas Ruff sind das Blickregien und Oberflächenwerte, durch die der Betrachter an den überdimensionierten Porträts abgleitet. Oder auch die Farbigkeiten, durch die seine 50er Jahre Behausungen nicht mehr Zeitzeugen sind, sondern zu Versatzstücken werden. Es geht hier um Bildmaterial und seine Präsenz, aber auch darum, wie es als solches überhaupt verfügbar wird. Die leichte Kolorierung und Isolierung der Nachkriegsbauten leisten hier, was in den frühen Porträts die farbigen Hintergründe herstellen, oder auch die Elemente von Mode und Bekleidung, die die Gesichter ebenso (un)passend rahmen und einbinden.
Auch bei August Sander fächern sich die Facetten des Sozialen als Elemente eines Repertoires von Fremd- und Selbstinszenierungen auf. Weil gerade von heute aus die Kategorien, mit denen er vorgeblich das soziale Panorama seiner Zeit zu erfassen versuchte, immer wieder in ihrer Unangemessenheit kollabieren, bleiben von dem Projekt eigentlich nur die verunsichernden Überschreitungen. Präsentationsvorgaben sind hier immer schon als Möglichkeiten des Rollenspiels angelegt, auch wenn dieses bei Sander Künstlern und ihren Überschreitungsgesten vorbehalten scheint. Der Maler inszeniert sich im selbstbewussten Spiel als Inhaber gesellschaftlicher Macht, und im Jahrmarkt der Kategorisierungen machen die Großstadt bei Sander erst mal Mädchen im Kirmeswagen und Zirkusleute aus. (Walker Evans ist dagegen entlarvend angelegt, wenn er Werbungs-…