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Essay · von Hans Ulrich Reck · S. 46 - 51
Essay , 1999

HANS ULRICH RECK
Totales Erinnern und Vergessensphobie – Aktueller Gedächtniskult und digitale Speichereuphorie

Es sieht derzeit wieder so aus, als ob man dem letztlich unvermeidlichen Geschick, einer unerbittlich ablaufenden Zeit zu unterliegen, mit vehementen Drohungen und Anstrengungen nach allen Seiten, nicht zuletzt auch nach innen, begegnen möchte. Ihm zu entfliehen, scheint das Gebot nicht nur der letzten Stunde. Ein Zwangszusammenhang wird aufgespannt, Sprach- und Denkregelungen nehmen zu. Erinnern wird nicht nur, wie kürzlich durch Nobelpreisträger Elie Wiesel geschehen, als Waffe bezeichnet, sondern auch als solche im Dienste des überzeitlich Guten allerorten vermehrt mobilisiert. Man möchte, so scheint es, dem Gebot und damit Verlust der irreversiblen Zeit vor allem dadurch entfliehen, dass ein geschichtlich unvorstellbar grausames Schicksal dem Eigenen den Platz des exklusiven Opfers sichert und es mit der Mythologie absoluter Wahrheit entschädigt – und zwar auf immer. Das bedingte, Wandel auf das Unwandelbare festzuschreiben, die Akte des Bewusstseins ausschließlich auf dieses einzuschwören und alles andere als die endgültig erreichte wahrhafte Inkorporation nicht gelten zu lassen. Vor allem darf es keinerlei Anderes mehr außerhalb dieser Konstruktion geben. Unerschütterlich und unberührbar würde so eine als endgültig erklärte Wahrheit. Und doch entkäme, offenkundig, auch sie nicht dem Fluch des Vergessens. Über kurz oder lang scheitert selbst die gewaltigste und gewalttätigste Anstrengung zum unbedingten Erinnern jenseits der Gesetze der Zeit. Es ist ihm keine je für den Moment des Erlebens aktualisierte Permanenz möglich. Unvermeidlich wird, ob einem das gefällt oder nicht, erlebter Schmerz zitierbare Information. Alles, was Erinnern leisten kann, ist nämlich: Leben in Wissen…


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von Hans Ulrich Reck

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