B. Joseph Mallord William Turner. Vom Romantischen Pessimismus zur Farbverklärung im Angesicht der Moderne
Turners Feuer war eine späte Leidenschaft. Als der 60jährige es für sich entdeckte und zum prägenden, wenn auch raren Bildmotiv ab der Mitte der 30er Jahre machte, war er bereits ein berühmter, wiewohl umstrittener Maler. Berühmt, der packendsten Naturvisionen wegen, die jemals gemalt worden waren; umstritten, weil er sich bald schon formale Freiheiten herausnahm, die jeder Tradition Hohn lachten.
1816 hatte ihm der Kritiker und Essayist William Hazlitt in polemischer Absicht vorgeworfen, nicht die Natur abzubilden, sondern deren Elemente: Luft, Wasser und Erde, formlos und ungestalt zu malen. Vom Feuer war nicht die Rede, und Turners frühe Werke boten auch wenig Anlaß dazu. Als John Ruskin 1843 mit dem l. Band der Modern Painters zur rigorosen Verteidigung Turners schritt, hätte der phänomenale Befund anders lauten können. Doch auch Ruskin fragte nach der Wahrheit der Wolken, der Erde und des Wassers, nicht aber nach dem Feuer. Dies mag einerseits als Hinweis gelten, wie wenig eine extreme Nachahmungstheorie, und eine solche waren die Modern Painters l, insbesondere dem Spät werk Turners angemessen war, andererseits als Verdacht, daß im Feuer der Schlüssel zu Turners letztem Naturverständnis liegen könnte. Er rang mit Natur wie Jakob mit dem Engel, wollte sich von ihr und in ihr erlösen. Natur hieß sein großes, lebenslanges Thema; Thema freilich im Sinne eines Problems, nicht als fraglos vorgegebene Basis, die es abzupausen galt.
Turner war eine Generation jünger als William Blake. Mit jener rebellischen Jugend, die den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, die Gordon Riots in London und schließlich die französische Revolution voll miterlebte, hatte er wenig gemein. In seinem Geburtsjahr, 1775, kehrte Wright of Derby aus Italien zurück und begann seine Vesuv-Prospekte zu zähmen. Turners künstlerische Anfänge in den späten 90er Jahren fielen zusammen mit dem Aufstieg der literarischen englischen Romantik, William Wordworth »Lyrical Ballads« von 1798 etwa, als die Revolution poetisch wurde und bald auch schon reaktionär.
Ebenso mehr als Reaktion, denn als Fortsetzung der aufgewühlten, stürmenden und drängenden Generationen vor ihm (etwa Loutherbourg, geb. 1740, Füssli, geb. 1741, Blake, geb. 1757) lassen sich seine frühen Bilder, auch gegen den ersten Anschein, verstehen. Denn alle Turbulenzen darin, Lawinen, Wirbelsturm, Unwetter und hochgepeitschtes Meer, wurden von den Menschen erlitten, nicht entfacht, und parallel zu diesen Bildern artikulierte Turner ohnehin eine geradezu frenetische Sehnsucht nach Ruhe, Ausgeglichenheit und Verklärung im Anschluß an die klassischen Landschaften eines Claude Lorrain und Nicolas Poussin. Vorerst war Turner also gar nicht so sehr auf Veränderung und Umwälzung, sondern eher auf Bewahrung bedacht; sogar seine katastrophalen Visionen einer entfesselten Natur lassen sich zumeist mühelos mit holländischen Vorbildern aus dem 17. Jahrhundert in Zusammenhang bringen.
Lange Zeit blieb Turner noch um eine rigorose Naturnachahmung bemüht, die sich wohl aus seiner betont handwerklichen Ausbildung, besonders im Aquarellieren im Umkreis von Thomas Girtin herleiten läßt. Die Kluft zu den leidenschaftlichen poetischen Anliegen des Malers dürfte hierin bereits faßbar werden; Spannungen und Reibungen zwischen der malerischen Virtuosität auf der einen Seite und einem ambitionierten geistigen Wollen auf der anderen prägten zeitlebens Turners Werk und Kunst.
Anfangs standen Naturnachahmung und sowohl »erhabene« als auch »schöne« Naturinterpretation noch annähernd gleichwertig nebeneinander, wenngleich in den Jahren vor 1812 die katastrophale Weltsicht stark dominierte (bis zum »Hannibal«). Danach kehrte Beruhigung ein; die klassischen Themen rückten vor, und immer wieder schien Turner versucht, deren verklärenden Charakter auf die heimatlichen englischen Gefilde und später auf die zeitgenössische italienische Landschaft, also in den Bereich der reinen Naturnachahmung zu übertragen.
Erst nach 1830 nahm Turner die Katastrophe wieder auf, um bald die Nachahmung gänzlich zur Seite zu schieben und eine Synthese aus Tumult und Verklärung zu leisten, an der das Feuer so regen Anteil nahm.
1) der romantische Pessimismus
Im 5. Band der Modern Painters (1860), als John Ruskin Turner vom Visionär der reinen Naturwahrheit zum Ideenmaler umpolen wollte, analysierte der Autor jenes eigenartige, im Umfeld des frühen Werks außerordentliche und programmatische Bild »Apollon and Python« (1806-11), das den Kampf der Licht- gegen die Dunkelmächte, wie er das eben ausgelaufene Jahrhundert in Aufklärung, Revolution und noch in den Spiritualien des William Blake so entschieden geprägt hatte, sich zum Thema stellte. Ruskin beobachtete, daß aus der sterbenden Pythonschlange bereits ein junger Wurm kriecht, unausrottbar sei letztlich das Übel, schloß er daraus. An eine Unüberwindbarkeit des Bösen in der Welt, an die Unmöglichkeit von deren vollkommener Ausleuchtung, an den ewig irdischen Kampf von Licht und Finsternis mag der Maler auch gedacht haben.
Jenseits solcher prinzipiellen Einsicht stellte sich dem jungen Turner das eher theologische Problem von Verworfenheit der Menschen in der Sünde und dem Zustand einer möglichen Gnade. Puritanische Wurzeln, vor allem von John Milton her, können nicht geleugnet werden, aber es fehlte Turner dessen Heilsoptimismus, ja jede transzendente Gotteserfahrung, gänzlich. Natur wurde der oberste, quasi religiöse Maßstab aller Dinge. Gnade hieß der stimmige, rhythmisch-harmonische Einklang mit ihr, wie er vom Vorbild Claude Lorrain vertraut war, dem er nachzueifern suchte. Verworfenheit hingegen mußte in der menschlichen Anmaßung, im Aufruhr gegen die natürliche Ordnung allen Seins liegen.
Besonderes Interesse brachte der Maler dem Dichter James Thomson (1700-48) und dessen »Saisons« (als »Jahreszeiten« von Haydn vertont) entgegen, in denen die Regsamkeit der elementaren Naturkräfte noch als weise göttliche Fügung erschien. Für Turner wurde solcher Ratschluß Gottes immer undurchschaubarer, rätselhafter und grausamer. Die gesamte Geschichte, ja das menschliche Geschick, schien der Allgewalt der Naturkräfte ausgeliefert, der einzelne ein Spielball in deren Pranken: seien es die biblischen Themen mit den ägyptischen Plagen (1800, 1802), die Zerstörung Sodoms (1804), die Sündflut, oder einfach Seenot und Schiffbruch, bis letztlich hin zum Hannibal, der im Schneesturm die Alpen überquert und dort eine Vorahnung seines Untergangs erlebt (Snow Storm: Hannibal and his Army crossing the Alps, 1812). Nie einfach Natur ist dargestellt, sondern deren schön-schreckliche Möglichkeiten und wenn nötig gegen den Menschen gewandt.
Inwieweit das Motiv der menschlichen Schuld, welche die rächenden Naturgewalten provoziert, auch aktualisierbar sein konnte, dafür war das letztgenannte Bild bald schon berühmt. Die Identifikation Hanni-bals mit Napoleon war durchaus beabsichtigt, wenngleich der prophetische Charakter des Bildes in bezug auf den Rußlandfeldzug zumeist übertrieben wird. Bestrafung des sündigen, aus den Bahnen der Natur ausscherenden Menschen, des anmaßenden Welteroberers, darin liegt aber zweifellos der mehrschichtige Sinn des Bildes.
Aktualitätsbezogenheit der katastrophalen Weltsicht läßt sich, mit der nötigen Vorsicht, nicht nur am »großen« Menschen, der Widernatur Napoleons, sondern in noch weiterem Sinn ansprechen. Viel zuwenig, wie mir scheint, wird in der Literatur auf Thomas Robert Malthus’ (1766-1834) »Essay on the Principle of Population« (1798, :1805) verwiesen, in dem die Struktur von Turners puritanischem, aber ins Pessimistische säkularisiertem Argument offen vorliegt. Malthus’ Essay konnte geradezu zur Bibel des nachrevolutionären Bürgertums werden, weil darin der wirtschaftliche Liberalismus zu einer Verteidigung des Kapitals, von Eigentum und Ausbeutung überhaupt, verwandelt wurde. Elend und Not, heißt es, seien das ewige Los der Mehrheit der Menschen, denn wie sehr auch die Nahrungsmittelproduktion intensiviert werde, kraft irgendeines geheimnisvollen Naturmechanismus steige die Bevölkerungszahl noch rascher an und jede Anstrengung, daran zu rütteln, wäre vergebens. Ein Pessimismus dieser Art, der auf eine außerzeitliche »List der Natur« rekurriert, um in Wirklichkeit auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verunsicherungen des historischen Augenblicks zu reagieren, läßt sich auch aus Turners Bildern und insbesondere aus seinen poetischen Fragmenten, »The Fallacies of Hope« ab 1811 entnehmen. Freilich wurden Malthus’ rein ideologische Thesen von Turner ins Existentielle geweitet, ins Mythische und Religiöse geklärt sowie ins Naturvisionäre und sogar ins Geschichtsphilosophische überhöht.
Turners methodisches Vorgehen war in sich zweischneidig. Einerseits wurde das Heils- oder besser Unheilsgeschehen jeweils naturalisiert, die biblischen bzw. historischen Ereignisse an die Unmittelbarkeit erhabener Naturerfahrung geknüpft; andererseits ging es Turner ebenso nachdrücklich um eine Historisierung der reinen Naturschau. Er beging jenes von Reynolds so getadelte Sakrileg, Landschafts- und Geschichtsmalerei miteinander zu verschmelzen, vergriff sich also in der Stilhöhe im traditionellen Sinn. Nicht nur an einer Nobilitierung seines Genres, der Landschaftsmalerei, war ihm gelegen, ein neues Bildverständnis jenseits der alten Gattungsgrenzen kündigte sich an. Am Wirbelmotiv aus der »5. ägyptischen Plage« oder dem »Hannibal« entwickelte er später die Autonomie der Bildform.
Nach 1812 rückte nun die Geschichtsmalerei entschieden gegen die überwältigenden Naturvisionen vor. 1807 bereits begann Turner, in Anlehnung an Lorrains Liber veritatis eine Stichfolge seiner Bilder unter dem Titel Liber Studiorum zu publizieren. Im Jahr 1812 stach er selbst das Titelblatt dazu, das die einstmals mächtige phönizische Hafenstadt Tyros bei Sonnenuntergang darstellt und am Strand davor den Raub der Europa. Ruskin machte auf das darin verborgene Vanitas-Motiv, Untergang und Vergänglichkeit von Macht, Pracht und Reichtum, verbunden mit einer Allusion auf Europa, aufmerksam. 1815 stellte Turner »Dido building Carthago, or the Rise of the Carthaginian Empire« in der Royal Academy aus, in intensiver Auseinandersetzung mit Claude Lorrain.
Zwei Jahre später folgte »The Decline of the Carthaginian Empire«, der wechselweise Symbolismus von Morgen- und Abendlicht, dazu noch ein raffiniertes Spiel natürlicher und kultureller Elemente war anvisiert. Ebenso wären das Bild des rekonstruierten Tempels des panhellenischen Jupiters und sein Gegenstück, das die Ruinen desselben Tempels in idyllischer Verklärung zeigt (»View of the Temple of Jupiter Panellenius, in the Island of Aegina, with the Greek National Dance of the Romaika: the Acropolis of Athens in the Distance«), beide von 1816, zu nennen.
In allen Beispielen wurde der Geschichte Einmaligkeit und lineare Fortsetzbarkeit abgesprochen, jedes menschliche Handeln einem natürlichen Rhythmus, den Zyklen des Sonnenlaufs etwa, unterworfen. Nicht
mehr außerzeitlich im Angesicht Gottes, der Natur, zeigte sich die irdische Welt im Zustand der Gnade oder der Verworfenheit, mit den formalen Entsprechungen eines schummrigen Einheitstones oder eines dramatischen Hell/Dunkels, sondern Aufstieg und Fall, die Übertragung der natürlichen Rhythmik von Werden und Vergehen in die innere Dynamik des Geschichtsablaufs, hieß nun das Thema. Die Dominanz der verklärenden, an Lorrain geschulten und ins Brillante gesteigerten Tendenz mit melancholisch-elegischen Stimmungswerten ist unverkennbar. Gerade das Historienbild wurde zum Beispiel unveränderlicher, nicht biblisch richtender, sondern mythologisierter, inwendig dynamischer Natur, Karthago zum barbarischen, vorantiken Urbild naturverfallener Geschichte.
2) die Farbverklärung im Angesicht der Moderne
Nicht umsonst gilt den Briten die lange Regierung ihrer Königin Viktoria (1837-1901) als ein goldenes Zeitalter. Schon seit geraumer Zeit war Napoleon besiegt; der Alptraum der französischen Revolution hatte sich zum »Gespenst des Kommunismus« verdünnt, dessen vereinzelte Attacken noch ohne großen Mühen abgeschlagen werden konnten. Ein siebzigjähriger Friede, nach innen wie nach außen, lullte Land und Leute ein. Beispiellose Prosperität, wirtschaftliche wie politische Vormachtstellung auf der ganzen Welt fielen als reife Früchte jener gewaltigen Saat, die wir heute die erste industrielle Revolution nennen, in den Schoß der strebsamen Bürger und ihrer jungen Königin. Jenen hatte bereits die Reform-Bill von 1832 den Zugang zur politischen Macht eröffnet; Stolz, die Idee der »splendid isolation« machte sich breit, die ihren triumphalen Ausdruck gerade in einer Weltausstellung, 1851 im »Cristall Palace« erfahren sollte.
Oberflächlich besehen kehrte Turner dieser Zeit den Rücken zu. An ihren Höhenflügen und Sensationen wie an ihrer Moral hatte er wenig Anteil; ihre Bedürfnisse waren bald nicht mehr die seinen. 1829 starb ihm der Vater, zu dem zeitlebens ein inniges Verhältnis bestand. Mit Lord Egremont folgte derjenige seiner Mäzene ins Grab, der ihm jahrelang auf Schloß Petworth eine Heimstätte bot und der auch der letzte Auftraggeber war, auf den der Maler Rücksicht nahm. Absonderung und Isolation verstärkten sich ständig, bis er seine letzten Lebensjahre (ab 1846) sogar in nahezu gänzlicher Anonymität und Trunksucht verbrachte.
Er, der doch in seiner romantischen Jugendzeit all die Ängste und Träume des Bürgertums so treffend artikuliert hatte, geriet diesem gegenüber zusehends in Widerspruch. Selbst die treuesten Sammler, die sich an seinen so frisch gemalten »Cuyps« und »Lorrains« delektiert hatten, wollten und konnten die rigorosen malerischen Kühnheiten nicht mehr verstehen. Dennoch dürfen die Analogien zwischen der Welt des wirtschaftlich-technischen Fortschritts auf der einen Seite und den malerischen Errungenschaften des alten Turner auf der anderen nicht übersehen werden.
Das radikal Neue, dem Turner bisher wie alle Bürger distanziert und, seiner Widernatur wegen, ablehnend gegenüberstand, bekam nun einen hervorragenden Stellenwert. Waren es früher bloß Poussin, Lorrain und die Holländer, an die er anzuschließen meinte, so sammelte er nach den beiden Italienaufenthalten von 1819 und 1828 auch die Venezianer, Raffael (als Landschaftsmaler!), schließlich Watteau und Rembrandt in sein Werk ein. Dieses An- bzw. Aufsaugen nahezu der gesamten »malerischen« Tradition der Kunstgeschichte führte ihn an die Pforte des Neuen. Der eklektische Gestus des Aufnehmens und Bewahrens sättigte sich, sprengte urplötzlich alle Einschränkungen und ließ gleichsam aus sich selbst die neuen bildnerischen und farblichen Lösungen herausquellen. Keine ex nihilo-Schöpfungen eines Augen- und Geisteskranken waren zu erwarten, sondern ein stilles Eingehen des Alten in den Schmelzofen des Neuen. Darin mag auch der Grund liegen, daß keine Aufbruchstimmung, dafür eine virulente Todessymbolik wie ein Schatten über allen diesen Bildern liegt.
Italien hatte mehr als nur eine hellere und reichere Palette hinterlassen. Heitere, gelassene, beschauliche, verträumte Stimmungswerte ohne viel ideelle Legitimation hielten Einzug; antiklassische Kompositionsprinzipien staffelten die Massen nicht mehr Schicht für Schicht der Tiefe nach zu, sondern lieferten die Bildflächen einem kurvilinearen, rhythmischen und gliedernden Schwingen aus, das die Tiefenwerte gänzlich dem Licht und der Farbe überließ. Die kompositionelle Bildform glich sich stark dem tatsächlichen, elliptischen Blickfeld an, zwischen äußerer Naturerscheinung und innerem Wahrnehmungsapparat waren Homologien hergestellt. In gewissem Sinne war es das alte Wirbelmotiv, welches hier in verwandelter und rationalisierter Gestalt das Ende der linearperspektivischen Konstruktion einläutete, hin auf eine »gekrümmte« Raumbühne, die von rückwärts vom warmen Sonnenlicht ausgeleuchtet wird (etwa in der Petworth-Landschaft von 1828).
Solch innerweltlich verklärte Naturvision, wenn auch ohne perspektivische Kühnheiten, voller mikro- und makrokosmischer Analogien, Durchdringungen, Entsprechungen und Reflexe, sollte im Bild »Ulysses deriding Polyphemus. Homer’s Odysee« (1829) seinen stärksten Ausdruck finden. In diesem Bild phosphoreszieren die Lichter, die Dämpfe vulkanisieren, die Wolken irisieren und aus den Sonnenstrahlen schießt (bzw. schoß) eine Pferdeschar. John Gage hat auf die innige Beziehung solcher Phänomene zur romantischen Naturphilosophie von Erasmus Darwin bis Percy Bysshe Shelley hingewiesen, und dennoch ist der »Polyphem« Turners »klassischstes« Werk.
Licht und Dunkel halten sich fein ausbalanciert die Waage, dazwischen breitet sich eine überreiche Palette von Zinnober, Purpur, Gelb- und Grüntönen aus, die ihre komplementären Pole im Azurblau des Wassers und dem orangeverglühten Himmel finden. Lorrain, Tizian und Tiepolo klingen ineinander, ebenso wie Natur – eine mittelmeerische Morgenstimmung -, Vision und Geschichte. Jene »penetrative imagination«, von der Ruskin später sprach, fand hier ihr entscheidendes Objekt: nicht mehr Nachahmung der Natur, sondern innere, produktive Übereinstimmung des Malers mit den Wirkkräften von Natur und Geschichte. Rareste Naturerscheinungen und glänzendste Maleffekte entsprechen einander; die Harmonie des Bildes, so wäre man versucht zu sagen, artikuliert sich parallel zur Natur.
So kompakt und verschlossen dieses Bild erscheinen mag, es darf nicht vergessen werden, daß es die aufgehende Sonne, den Triumph des Fackelträgers Odysseus über den geblendeten, ins Reich der Dunkelheiten verstoßenen Polyphem darstellt. Keine Spur mehr vom puritanischen Pessimismus (in der Alternative: Gnade oder Verworfenheit), ebensowenig vom streng naturalisierten Geschichtsablauf (im Rhythmus von Aufstieg und Fall): ein einmaliges, lichtbringendes, farbverklärtes Ereignis vollzieht sich inmitten einer ins Neuplatonische zielenden Natur- und Kunstmystik.
Drei Lichtquellen waren im Polyphem auf furiose Weise miteinander verschmolzen: die weißintensive aufgehende Sonne, die winzige Fackel des Odysseus und noch ein kleines Feuer in einer dumpfen Seehöhle am linken Bildrand. Jede Flamme wurde vom harmonischen Färb- und Lichtreigen ringsum aufgefangen und ins melodiöse Spiel der Bewegungen und Rhythmen eingebunden. Die Wiederaufnahme des Katastrophenthemas um die Mitte der 30er Jahre zerriß jenes feingesponnene Netz wieder, entfachte das Feuer ins Unbändige und zerstörte auch jene dritte, harmonische Naturvision nahezu restlos. Dadurch erfuhr das Katastrophenthema selbst eine grundlegende Wandlung und näherte sich anderen Themenbereichen. Etwa der einst friedlichen und verklärenden Sonne, die um diese Zeit zu exzessiver Wirkung kam. Oder den luftigen, farbgesättigten Visionen von Dampf und Rauch, die nun freilich nicht mehr vulkanischen Ursprungs waren, wie im Polyphem, sondern den qualmenden Schloten der Schiffe und der Eisenbahn entstiegen.
»Fire at Sea« (1834/35) eröffnete den Reigen und stellte sich in eine Tradition, welche die Kunst um 1800, wohl im Anschluß an John Milton, so euphorisch aufgegriffen, die der frühe Turner aber gemieden hatte. Füssli, Blake und John Martin (1789-1854) malten mehrmals das In-, Mit- oder Gegeneinander der Feuer- und der Wassermächte, zumeist als einen dämonischen, un- bzw. vornatürlichen Bereich. Das lodernde Flammenmeer der Hölle, von dem kein Licht ausgeht, Sadak an den flammenden Wassern des Vergessens u.a. bezeichneten das schlechthin Unversöhnliche, Undenkbare und daher ebenso Schauerliche wie Satanische.
Turner renaturalisierte das mythologische Erbe vorerst; obendrein hinterließ er das Bild in sehr roh gemaltem Zustand, so daß der Charakter der jeweiligen Turbulenzen kaum erkennbar ist. Nur ganz am rechten Rand flackern die Flammen eines brennenden Schiffes ins Bild; Hauptmotiv sind jene Unglücklichen, die, dem Feuer entronnen, nun aber sich auf Planken oder Flößen dem anderen Element, den tobenden Meereswogen ausgeliefert finden. Das sind die »Fallacies of Hope«: gnadenlos zwischen Feuer und Wasser, Scylla und Charbydis, steigert sich Verzweiflung ins Apokalyptische, und die Rhythmik dieser fallenden und sinkenden Leiber erinnert an die Verdammten eines Rubensschen Weltgerichts.
Wenig später wandte Turner sein Interesse einer ganz anderen, realen Katastrophe zu. In der Nacht vom 16. zum 17. Oktober 1834 brannten die Londoner Parlamentsgebäude, der alte Westminster Palace, nieder. Turner eilte, wie das gesamte schaulustige London, welches das Ereignis als Schauspiel mit dämonischen Zügen erlebte, hin und skizzierte unaufhörlich. Die dabei entstandenen Aquarelle zeigen den Brand meist aus unmittelbarer Nähe, sehr detailgetreu mit der Menschenmenge umher sowie den Aktivitäten der Feuerwehr und deren Löschfontänen, die sich, immer am rechten Bildrand, in das tumultöse und zerstörerische Ineinander der Licht- und Farbflecke mit den noch deutlich erkennbaren gotischen Baustrukturen senken.
Im Februar 1835 stellte der Maler ein erstes Gemälde: »The Burning of the House of Lords and Commons, 16th October 1834« in der British Institution aus; im Frühjahr sollte eine zweite Version in der Royal Academy folgen.
Das frühere Bild, heute in Philadelphia verschob den Brandherd an den linken Bildrand. Von rechts ragt schräg und mächtig die graue Westminster-Bridge ins Bild, um genau in der Bildmitte den gelb-orangen Widerschein der Flammen aufzunehmen und steil auf diese zu, am anderen Themseufer abzufallen. Im Vordergrund drängen dunkel die Menschen sich wie auf einer geschwungenen Zuschauertribüne, um das nun recht weit entfernte Spektakel zu beobachten. Der mögliche Einfluß eines Panoramas, das noch vor den Gemälden Turners in London zu sehen war, auf eine solche »Bildarena« muß als wahrscheinlich gelten.
Nur schwach schimmert die betroffene Architektur durch den grellen Flammenschein. Das pastose Weiß mit den rosa- und lachsfarbenen Spiegelungen über der Wasseroberfläche der Themse und bis weit in die Wolken hinein beherrscht die gesamte linke Bildseite; zur Rechten grenzen es schwere, düstere Rußschwaden vom fast taghellen Himmel ab. Raffinierte Lichtreflexe und das Eigenlicht der Laternen nehmen den kraftvollen Beleuchtungsimpuls des Feuers über die gesamte Bildfläche bis hin zum Sternenhimmel auf. Ein grandioser, augenblicksgeladener Illuminationseffekt erstrahlt, der sich einer Vielzahl raffinierter und nuancierter Bildmittel bedient.
Im Cleveland-Bild vereinfachte sich diese Struktur. An Stelle der Brücke nehmen nur mehr kleine Boote schräg von rechts unten die auf den Brandort hinweisende, tiefenräumliche Funktion im Bilde wahr. Das noch intensivierte Feuer rückte in die Bildmitte und hat sein Zentrum genau an einer leicht gekrümmten Horizontlinie, die das Bild auch in der Vertikalen halbiert. Vorne sind die gaffenden Zuseher verschwunden; sie wurden ganz zur Seite gedrängt und standpunktlos hat man ein beinah kosmisches Weltenpanorama vor sich. Das Flammenzentrum ist weniger weiß, sondern besteht aus leuchtendgelben und zinnoberroten, extrem pastosen Schleifen und Schlieren; eigentliches Brandobjekt, Flammenzungen und Farbreflexe wurden in der gesamten Bildmitte, vom Himmel bis zum Wasser am unteren Rand ununterscheidbar. Dunkelwerte finden sich nur ganz an den Seitenrändern, aber eine reiche Skala von Weißlich, Bläulich und Grünlich umrahmt den glühenden Bildkern.
War die erste Version auf stark räumlichen Gegensätzen, einem kräftigen Hell/Dunkel mit mannigfaltigen Lichtquellen und -reflexen aufgebaut, so steht nun ein dominierender Warm/Kalt-Kontrast vor uns, der dem Bild eine farbige Kompaktheit aus Konzentration und Einbettung verleiht, wie nie noch zuvor.
Bereits im »Rheinfall« von 1810 waren vergleichbar pastose Farbmassen auf die Leinwand geschmiert, allerdings vom Betrachter getrennt durch eine extrem exakt gemalte Vordergrundsszenerie. Diese Tiefenstaffelung, welche die malerische Gewaltsamkeit und Undeutlichkeit nur in der Ferne gestattete, verschob sich zur farblich gegliederten Bildfläche. Der Färb- und Feuerkern in der Bildmitte wird räumlich situierbar nur durch die gegenständlichen Accessoires im kühlen, blaugrünen Umfeld, insbesondere den Booten, der fernen Bogenbrücke und den weißlich schimmernden Westminster-Türmen.
Damit trat der panoramahafte Rundblick zurück zugunsten eines fein ausbalancierten Equilibrums von Ferne und Nähe, von quasi kosmischer Überblickslandschaft und der unmittelbaren Konfrontation mit dem brennenden Bild-Motiv. Jene illusionistischen Unsicherheiten stellten sich ein, die aus dem Herzen des Bildes das Feuer, die Flammenfarben, schlagen ließen. Luft und Wasser waren nur durch eine hauchdünne Erdkruste geschieden; dort, wo auch auf anderen Bildern die untergehende Sonne mit den Reflexen des Meeres verschmolz, entzündete hier sich die feurige Eruption. Alle Elemente der Natur fielen gleichsam ineinander, um der Geburt eines Neuen, des illusionslosen, farbintensiven Bildobjekts beizuwohnen. Unmerklich kippte die Naturkatastrophe in eine Revolte der Bildmittel, die dabei ihren Anspruch auf Autonomie artikulierten.
An beiden Parlamentsbildern wurden in besonderem Maß jene so mythenträchtigen Beobachtungen gemacht, die den Maler an den »Varnishing Days« von frühmorgens bis abends an den nur lose skizzierten Bildern ununterbrochen und aus allergrößter Nähe, ohne jeden Gesamtüberblick, arbeiten ließen. Der immer wieder strapazierte Vergleich mit einer Paganini-Virtuosität scheint mir aber doch unpräzise zu sein. Eher verschränkten sich das elementare Ereignisbild mit dem Aktionscharakter des Malakts und, besonders in der 2. Version, rückte alle Schilderung weit hintan. Ebenso wurde das innerbildliche Beleuchtungslicht vom Eigenlicht des reinbunten, glühenden Farbkerns durchstoßen; malerische Raumillusion kippte in die Autonomie der Bildfläche, Nachahmung der Natur wurde zur Kunst als reiner Hervorbringung.
Nur im Sinne eines solchen mehrwertigen Umkippens können auch die Analogien zwischen den malerischen und den politischen Aktualitäten verstanden werden, die den Bildern und ihrem höchst unromantischen Feuer zugrunde liegen. Zwei Jahre zuvor hatten Umwälzungen im Parlament, die Reform Bill von 1832, viel Altes zu Grabe getragen und Neues erweckt. In den Worten des Historikers Kurt Kluxen bedeutete sie »den ersten Schritt von der gegliederten Gemeinschaft zur individualisierten Gesellschaft«. Die Machtverlagerung vom »House of Lords« zum »House of Commons« wurde vollzogen, gleichsam eine behutsame und langwierige bürgerliche »Revolution«, wobei die Handelsherren der Städte den landbesitzenden Adel zurückdrängten und sich im selben Atemzug das Proletariat noch vom Leibe hielten.
Mit jener Bildentzündung, welche die Illusion von Natur überführte und aufgehen ließ in der Autonomie der Kunst, hatte das Feuer seinen Dienst getan. Es verschwand in der Folge nahezu gänzlich, nicht ohne seine formalen Errungenschaften: Aktionscharakter, pure Farbflächengliederung, Rußschwaden als Dunkelwerte usf. anderen Motiven zu überantworten bzw. die in ihm selbst angelegten gegenständlichen Unsicherheiten weiterzuleiten. Das berühmte, von Ruskins Vater erworbene »Sklavenschiff« (Slavers throwing overboard the Dead and Dying – Typhon coming on«, 1840) ließ etwa der untergehenden Sonne ebensolche Glutfarben entsteigen wie das Bild in Cleveland dem brennenden Parlament; die Buntfarben steigern sich sogar ins Scharlachrot und Purpur, trüben sich vorne im schmutzigbraunen Meer und hellen sich nur wenig in den dichten Wolkenmassen auf. Die gesamte Bildfläche blieb damit erstmals auf die Farbentladung in ihrer Mitte bezogen; die stürmischen Katastrophen-Wogen und die intensiven Farben schoben sich ineinander zu einem neuerlichen, leichenfahlen wie blutrünstigen Schauspiel von menschlicher Grausamkeit und rächender Natur.
»Hope, Hope, fallacious Hope!
where is thy market now?«
stand zu dem Bild geschrieben. Der Sklavenhandel drängte gleichsam zur Analogisierung existentieller Schicksalsverlorenheit mit aktuellen Geschehnissen. Nicht im Sinne von »Zeitkritik« wäre das Bild freilich zu lesen, sondern als eine Art moralischer Aufrüstung, wie sie das englische Bürgertum – seit den 30er Jahren weltweit führend im Kampf gegen die Sklaverei – betrieb und benötigte.
Doch der Katastrophen-Furor erlahmte alsbald und ein eher systematisierendes Denken rückte vor. Als Fundus stand Turner nicht nur die Kunstgeschichte zur Verfügung, ebenso das bereits beträchtliche eigene Werk. Denn nie schritt er geradewegs vor, immer rückblickend, aufnehmend, keiner seiner Wege wollte vergebens gegangen worden sein. Dementsprechend darf das zweite Parlamentsbild (in Cleveland), auch wenn in ihm erst die eigentliche Fundierung des späten Werks geleistet wurde, nicht als Überwindung der ersten Version betrachtet werden. Eher sollte man beide gemeinsam als frühestes jener farbdifferenzierten Bilderpaare auffassen, die Turner zu Beginn der 40er Jahre in teils quadratischen, runden oder oktogonalen Kleinformaten schuf und die ihren programmatischen Höhepunkt in »Shade and Darkness – the Evening of the Deluge« sowie in »Light and Colour (Goethe’s Theory) – the Morning after the Deluge. Moses writing the Book of Genesis« erreichten.
Jeweils ein dunkles, kühles und ein lichtes »heißes« Bild standen einander gegenüber. Auf der einen Seite Blau-, Grau-, Grün- und sogar Schwarztöne, wobei die letzteren das Weiß forderten zur Intensivierung; auf der gegenüberliegenden Seite: Gelb, Safran, Zinnober, Scharlach, Purpur, deren pastoser und opaker Pigmentcharakter auf recht eigentümliche Weise immer von einem fast »aquarellenen« Weißgrund hinterlegt zu sein scheint. Das glutfarbene Bild »Glauscus and Scylla« (1841) zeigt sehr deutlich, wie zwischen der sehr fernen Helle und den ganz nahen Dunkelheiten sich die intensiven Buntfarben ausbreiten, wie die Sonne Wasser, Luft und Erde in ihren Farbreigen einschmilzt. Dargestellt ist jene Szene aus Ovids Metamorphosen, die zur Verwandlung der schönen Nymphe Scylla in ein Ungeheuer führte; gemeint war mit dem Bild wohl der Niedergang der Antike, denn das Pendant weist eine Flucht nach Ägypten auf, »The Dawn of Christianity« als trübes, hochsteigendes Nebellicht über den Wassern.
1842 folgten nebeneinander »War. The Exile and the Rock Limpet« und »Peace. Burial at Sea«. »War« präsentiert, reichlich kurios, Napoleon auf St. Helena, von einem Wachtposten begleitet, wie er über einem winzigen Schneckenhaus meditiert, welches ihm die Form eines Soldatenbiwaks inmitten von Blut anzunehmen scheint. Selbst steht er hager und überlang im blutrot von der Sonne verschmolzenen Grenzbereich von Himmel und Erde. Die Auferstehung dieses Jugendtraumas verdankte sich wohl der Idolatrie des französischen Bürgerkönigtums, das 1840 die Asche des Verstorbenen mit großem Pomp in den Invaliden-Dom überführen ließ.
»Peace« hingegen war ein Gedächtnisbild für den Freund, Konkurrenten und Präsidenten der Royal Academy, David Wilkie, der auf der Rückreise von Palästina verstorben war und bei Gibraltar auf hoher See beigesetzt wurde. Das ungemein wirkungsvolle Bild kommt nahezu ohne Buntfarben aus und wird in der Mitte von einem Streifen goldenen, ganz »rembrandtesken« Feuerlicht zerteilt. Rund herum gruppieren sich tiefschwarze und blendendweiße Flächen, die nunmehr gleichberechtigt als Farben nebeneinander, und in keinerlei unmittelbaren Abhängigkeit voneinander, als Anwesenheit bzw. Abwesenheit von Licht sich definieren; das Chiaroscuro hat sich in einen Farbkontrast mit betont materialhafter Oberflächenwirkung, rußig und strahlend, verwandelt. Alle Gegenständlichkeiten: Segel, Boote und deren Mannschaft, ferne Architekturen, Meeresoberfläche, bleiben dem untergeordnet.
Auf der Schattenseite nahm »Shade and Darkness – the Evening of the Deluge« (1843) wieder das alte Wirbelmotiv aus dem »Hannibal« auf. Nervöse Vogelschwärme, triefende Regenwolken umrahmen den hellen, aber fahlen, sich ins Bläuliche verbreitenden Kern, um sich gemeinsam und unheilverkündend der düsteren Erdscholle aufzupfropfen, auf der die verstörten Tiere nur schwach auszunehmen sind, wie sie zur Arche waten.
»Light and Colour« (1843) daneben elemenierte die landschaftlichen Reminiszenzen vollends. Wie aus einem lichtfarbenen Sog, der sich der idealen Rundform nähert und die aufgehende Sonne vertritt, scheinen die vielen Gelbtöne zu quellen und den Rändern zu im Blauen, Roten und Dunklen zu versickern.
Moses thront schreibend nahe am hellsten Punkt, die eherne Schlange, das alte, auf Christus vorausweisende Erlösungssymbol, wächst gerade unter ihm aus der Düsternis, umwogen von einem wurligen Ineinander aus Köpfen und kaum nuancierten Leibern. Der Symbolismus des warmen und hellen Bildes galt nicht mehr Blut und Untergang, stand viel eher für euphorische Schöpfungsstimmung »am Morgen nach der Sündflut«. Erlösungshoffung und -erwartung, wie sie an das zentrale christologische Emblem geknüpft sind, korrigierte der begleitende Text aber deutlich:
»Die Arche stand sicher auf dem Berge Ararat;
die rückkehrende Sonne verdampfte die Erdfeuchte zu Blasen,
und in lichtstrahlendem Wettstreit war jede ein Abbild der Erdform
jede in regenbogenschillernder Gewandung
Ein Bote der Hoffnung, kurzlebig wie die Eintagsfliege,
Die aufsteigt, hin und her huscht, sich entfaltet und stirbt.«
Alle im Sonnenaufgang geweckte Hoffnung birgt in sich die Keime künftigen Verfalls. Die von der Erdfeuchte aufgeworfenen »Blasen« verdampfen in der Sonne wie die in ihnen schillernden prismatischen Lichtfarben sich verlieren. Ephemer wie die Eintagsfliege, ist die Menschheit auch am Schöpfungstage schon dem Untergang geweiht. Das Zeichen des Heils muß ebenso trügerisch sein wie jede Hoffnung und wohl auch wie die Illusionen der Kunst.
Das alte, an Karthago exemplifizierte Schema von Aufstieg und Fall war in diesem Bilderpaar ins Physikalische, Biblische und insbesondere ins Farbtheoretische verlagert. Aber gerade daraus wuchsen die symbolischen, oft widersprüchlichen Mehrwertigkeiten innerhalb der gesamten polaren Bilderreihe. Nur mit Mühe ließ sich der alte Sinn über die neuen, gänzlich artifiziellen Mittel stülpen. Die Vielfachbenennungen verwirren mehr als sie zur Klarheit der Phänomene beitragen, sie ringen mit den Problemen des romantischen Dichters, derer der moderne Maler gar nicht bedürfte. Sie legitimieren aber auch sein agnostisches Tun, den naturfernen, materialreichen und illusionslosen Malakt.
Wirklich aufschlußreich ist einzig der Hinweis auf Goethes Farbenlehre, denn nicht mehr in einer Annäherung der Kunst an die grenzenlose Vielfalt der Natur, sondern in einer Reduktion auf gemeinsame Strukturen lag Turners neues Ziel.
Goethes Farbtheorie paßte sich gut ins Umfeld all jener künstlerischen Farblehren ein, die kurz nach 1800 das siebenfarbige Spektrum Newtons durch einen harmonischen Sechsfarben-Kreis, bestehend aus drei komplementären Farbpaaren ablösen wollten. Eigentlich akzeptierte Goethe sogar nur zwei Grundfarben, das aktive Gelb und das passive Blau, die sich ins Grün mischten und ins Rot steigerten. Diesen »alchimistischen« Sinn des Rots konnte Turner nicht nachvollziehen und schloß doch unmittelbar an die »Polaritäten« Goethes aus dem § 696 des didaktischen Teils der Farbenlehre an:
Minus
Blau
Beraubung
Schatten
Dunkel
Schwäche
Kälte
Ferne
Anziehen
Plus
Gelb
Wirkung
Licht
Hell
Kraft
Wärme
Nähe
Abstoßen
Verwandtschaft mit
Säuren
Verwandtschaft mit Alkalien
Goethes Ziel blieb freilich die Harmonie der Farben, ihr Zusammenklang in verschiedenen Kontrasten, welcher einzig der Totalitätsforderung des Auges nachzukommen vermöchte und ihm Beruhigung gewähre.
Turner baute die theoretischen Polaritäten aus Goethes Farbenlehre zu zwei selbstgenügsamen, praktisch anwendbaren, chromatischen Reihen aus. Nicht den Farbkontrasten und ihrem stimmigen Zusammenklang galt sein Interesse, sondern den beiden voneinander getrennten, in sich bis zu den Grenzwerten gestuften Farbreihen: die eine stieg vom Purpur über warmes Gelb hinauf zum reinen Licht; die andere fiel vom kühlen Blau ins buntfarbenlose Hell/Dunkel zurück. Bemühte sich Turner auch gelegentlich (ca. seit 1818) nach dem Ausgleich der drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau, so wich er hier entschieden davon ab. Harmonie läge nur im unmöglichen Ineinander eines der Bilderpaare; die beiden chromatischen Reihen hingegen stehen im Dienste des Ausdrucks. Als vierte und letzte Naturvision schuf damit die Entwertung der codifizierbaren, sinntragenden Elemente zugunsten der Farbintensitäten einen Expressionismus von Natur. Dieser konnte seinen Ausdruck nur mehr in der autonomen, färb- und flächenwertigen Kunst finden. Zweiseitig blieb auch diese Natur bestimmt, aber nicht mehr im Sinne einer Ausgeliefertheit den Kämpfen zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis, sondern als ein freies Changieren im Ausdrucksfeld zwischen zwei chromatischen Reihen.
Vom Tod des Lichts bei Turner zu sprechen, wäre folglich vermessen und verfehlt. Das Verhältnis von Licht und Farbe komplizierte sich jedoch zusehends, im symbolischen ebenso, wie im formalen Bereich. Ein frenetischer Wille zum Licht blieb, allen malerischen Widrigkeiten zum Trotz, auch dem späten Turner erhalten. Noch in den Anmerkungen zum Goethe betonte er den Vorrang des Chiaroscuro vor den Farben und auch an der Unterscheidung von optischer »color« und materiellen »pigments« hielt er fest.
Signacs Rückgriff auf die vermeintlich reinen Farbflächen Turners geschah dennoch nicht zu Unrecht. Schließlich war das Eigenlicht der puren Farbpigmente niemals zuvor zu solch dominierender Bedeutung gelangt. Demgegenüber darf wiederum nicht übersehen werden, daß das Licht bei Turner keineswegs schlechthin das Alte vertrat und die Farbe das Neue. Er wollte sogar mittels des reinen Lichts, verkörpert in der Sonne, eine ähnliche Bildentzündung, aber alternativ zur Farbentladung in den Parlamentsbildern, leisten.
An Hand eines frühen Aquarells (1811) läßt sich der ihm zugeschriebene Ausspruch: »The Sun is God« bereits nachdrücklich belegen. Dargestellt ist jene Szene ganz am Beginn der Illyas (I, 37-42), die den um seine Tochter flehenden, von Agamemnon abgewiesenen Apollopriester Chryses schildert, wie er zu seinem Gott, der Sonne, um Hilfe und Bestrafung der Griechen betet.
Als eigentliches und fast alleiniges Bildthema trat die Sonne erst 1837 vor. In diesem Jahr übermalte Turner an den Varnishing Days nahezu vollkommen einen Claudeschen Seehafen, den er 1828, vielleicht noch in Rom, begonnen hatte; er tunkte ihn in grellstes Sonnenlicht, dessen runder Strahlenkranz die gesamte Bildfläche aufsaugt und alle Gegenständlichkeit sich unterwirft. Das Bild heißt »Regulus«, aber nirgendwo darin ist der mutige und tugendhafte römische Feldherr jenes Namens aus der Zeit des ersten punischen Krieges zu sehen, der von den Karthagern besiegt und auf sein Ehrenwort als Unterhändler nach Rom entsandt wurde, unverrichteter Dinge zurückkehrte und daraufhin gefoltert wurde. Dem Klassizismus hatte das Thema schon als heroisches Exempel gedient (Benjamin West); Turner verwandelte es von Grund auf: der unmittelbare Ereignissinn dieses »Historienbildes« stellte jede Schilderung hintan. Denn, immer nach John Gage, schlüpft jeder Betrachter in die Rolle des Regulus, vertritt diesen außerhalb des Bildes, dessen innere Organisation sich ganz auf eine solche Bezugsachse verschiebt. Der Betrachter erlebt an Lichtintensität, was dem tragischen römischen Heros geschah: die Blendung. Mit abgeschnittenen Lidern führten die Karthager ihren Gefangenen aus dem dunklen Kerker, setzten ihn plötzlich der Sonne aus und er verlor sein Augenlicht. Die ehemals positive, gnadenvolle, aber unerreichbare und verklärende Sonne zeigte hier ihre zerstörerische und gnadenlose Seite.
Nochmals riskierte Turner 1846 mit »The Angel in the Sun« den direkten Blick in die Sonne. Dort sah er den Engel mit dem hochgeschwungenen Schwert, jeden Zugang ins reine Licht, ins Paradies und zur letzten Erlösung verwehrend; er hörte ihn – beigefügt waren die Verse Apokalypse XIX, 17-18 – die Vögel des Himmels aufrufen zum letzten irdischen Gemetzel. Einen Abstrich davon bietet die merkwürdige Enthauptungsszene (Judith und Holofernes?) rechts vorne.
Wenn Turners Gott die Sonne war, dann war sie gerne ein biblisch zürnender, strafender Gott. Öffneten die Farbentzündungen in den beiden Parlamentsbildern den Weg zu einem innerweltlichen Parallelismus von Welt und Kunst, von chromatischen Farbreihen und ihren »natürlichen« Ausdruck, so blieben den Bildentzündungen durch das Sonnenlicht die tiefsinnigen theologischen Probleme vorbehalten, um sogar stark transzendierende Akzente zu erfahren. Plötzlich schien möglich, was dem frühen Apollo noch versagt gewesen war: ein Sieg des reinen Lichts, eines radikal Außerbildlichen, auf Kosten der Farbe freilich, der Bilder und der Welt. Der apokalyptische Triumph des biblischen Gottes würde den Tod durch Licht bedeuten.
Der »Angel in the Sun« war aber gar nicht Turners »letztes Wort«. Längst hatte er schon den Blick gewendet, wenn auch die alten Theologismen noch nachebbten und in der Ahnung des eigenen Todes wieder spürbar auflebten (und mit ihnen eine färb- und formlösende Lichtmystik). Vor dem Licht lagen ja nicht mehr die Finsternis und das Böse, sondern die beiden chromatischen Farbreihen, die sich jeder eindeutigen Moralisierung sperrten. Turners lebenslanger Pessimismus wird sinnvoll nur dem reinen Licht gegenüber, sowohl was dessen zerstörerische Effektivität, seine absolute Transzendenz, als auch die auf ihm beruhenden trügerischen Hoffnungen betrifft. Keineswegs aber starrte er gebannt auf Apokalypse und Untergang. Ruskins »Schwefelgelbinterpretationen« aus den Modern Painters V (1860), Dunst, Duft und Schummer seiner Bilder mit dem vernichtenden Ruß kapitalistischer Produktion vergleichend, hätten Turner eher nur erstaunt. In bezug auf seine innerweltliche, überaus polyvalente Farbe, die jeweils tragische oder verklärende, euphorische wie melancholische, gelassene und sentimental traurige Züge annehmen konnte, verlor die theologische Heilsachse von Optimismus und Pessimismus ihren Sinn.
Farbe und Geschichtlichkeit waren dieser Welt zugeordnet. Ein Streben nach dem Licht wohnte ihr ebenso inne wie eines nach Sinngebung; Distanz von der Finsternis und von der chaotischen phänomenalen Vielfalt wollte geschaffen sein. Jede Empfindung, jedes Einzelding und -Schicksal suchte nach Ordnung, war dem Allgemeinen aber nicht mehr auf Gnade und Verworfenheit ausgeliefert. Die naturalisierten Geschichtsrhythmen von Aufstieg und Fall spielten auch beim späten Turner ihre Rolle; allerdings verloren sie ihren hymnisch-mythologischen, urbildhaften Beispielcharakter, wurden zu Niedergang und Neubeginn, d. h. zu Umwälzung verkehrt und zu Aktualität verdichtet.
Ab 1833 löste zusehends das zeitgenössische, dekadente, siechende und glänzende Venedig das ferne Karthago ab. Noch vor Ruskins Bewahrungsfanatismus (Stones of Venice, 1851), der die ästhetisch pittoresken Reize in moralisches Verantwortungsgefühl angesichts eines ungeheuren realen Verlusts verbog, wurde für Turner die Lagunenstadt zum zentralen Topos von Geschichtsverfallenheit und Untergangsmelancholie. Gleichzeitig machte sich jedoch auch ein neues Interesse dem zeitgenössischen England gegenüber bemerkbar und insbesondere seiner aufregendsten Errungenschaft: der Dampfkraft.
Kurz nach der Rückkehr von einer Venedig-Reise stellte Turner 1834 in der Royal Academy »Venice: Dogana and San Giorgio Maggiore« aus. Im Jahr darauf folgte im selben Format »Keelmen heaving in Coals by Night«. Beide Bilder waren Auftragsarbeiten für den Fabrikanten Henry McConnell aus Manchester, und trotz des zeitlichen Abstands offensichtlich als Pendants gedacht.
Dem Venedig-Bild im hellen, klaren Sonnenschein, der die Architekturen präzis vortreten läßt, ist von Verfallsstimmung vorerst wenig anzumerken: reges Leben am Kanal, eine frische Brise in den Segeln, ein Schönwettertag wie viele andere, den die wenigen, vorne einfallenden Schatten auch im Symbolischen kaum zu trüben vermögen.
Die »Keelmen« hingegen arbeiten des Nachts, möglicherweise in Newcastle, dem damaligen Zentrum der englischen Kohleverladung. Der helle Mondschein und die in ihn getauchte Wasseroberfläche schaffen einen leeren und fahlen Stimmungsraum, dem das flackernde Fackellicht, konzentriert auf den eigentlichen Arbeitsbereich, entgegensteht. Einzelne Arbeitsvorgänge sind im schummrigen Dickicht von Feuer und Rauch nicht zu erkennen.
Die Polaritäten dieses Bilderpaares wären mit »morbider Reiz der Spätzeit und Pathos des Aufstiegs« nur sehr ungenau beschrieben. In beiden Fällen war der nüchterne Blick um Genauigkeit der Natureindrücke bemüht; der klare Symbolismus von auf- und untergehender Sonne, Aus- und Einlaufen in den Hafen wurde bewußt vermieden. Ein Bild des Tages, der Muße bzw. der geschäftigen Unterhaltung, von äußerer Schönheit und alter Kultur steht einem Bild der Nacht gegenüber, das von Mühe, von innerer Kraft und Dynamik, wie von neuer Wirtschaft und Industrie gezeichnet ist. Weder besonders verklärende Züge beim einen, noch stark dämonisierende beim anderen, sind auszumachen; beide nahmen einfach parallele, doch bedeutungsvolle Eindrücke der zeitgenössischen Welt auf.
Ihr emphatischer Konnex wurde an einem Thema ganz anderer Art erbracht. »The Fighting Téméraire Tugged to her last Berth to be Brocken Up« (Die »Fighting Téméraire« wird zum Abwracken an ihren letzten Ankerplatz geschleppt), 1839 in der Royal Academy gezeigt, rührte selbst hartgesottene Briten zu Tränen. Nicht einfach ein Stück altes England ließ Turner darin zu Grabe tragen, sondern das nationale Identitätsmuster des Seefahrerheldentums schlechthin. Die »Téméraire« focht hinter der »Victory« an zweiter Stelle der Schlachtordnung bei Trafalgar und zeichnete sich durch besonderen Mut und Geschicklichkeit aus. Auf Turners »Trafalgar«-Gemälde von 1808 war sie bereits erschienen, nun kehrte sie wieder: im Schlepptau eines schneidigen Dampfbootes, auf dem Weg zum Abwracken. Zeitenwende könnte das Bild heißen, denn kaum jemals wurde den Briten der radikale Bruch mit der eigenen Vergangenheit massiver bewußt gemacht, Kehrseite der eigenen Leistungen und Wehmutstropfen im Stolz.
Glänzend, aber behäbig, schwerfällig und mit eingerollten Segeln liegt das sentimental erinnerungsträchtige Schlachtschiff hinter dem forschen Bewegungszug des Dampfbootes, dessen schwarze Flanken wenig Gutes verheißen. Zur Orchestrierung läßt die untergehende Sonne noch den Himmel in allen Farben erstrahlen; die feurige Rußschwade aus dem Schlot des Schleppers nimmt sich davor fremd und unbeugsam aus.
Im bereits erwähnten »Peace. Burial at Sea« von 1842 wurden solche Rauchschwaden zum zentralen Bildmotiv. Sowohl der Feuerbestattung, als auch den Schiffsschloten entsteigen die schwarzen Schleifen, kreuzen sich einmal, um alsbald sich im Himmelsgrau aufzulösen.
Das Schneesturm-Bild von 1842 (»Snow Storm – Steam Boat off a Harbour’s Mouth making Signals in Shallow Water, and going by the lead. The author was in this Storm on the Night the Ariel left Harwich«) ließ die Ruß- und Rauchschleife des Dampfers sich mühelos den wirbelnden und tobenden Naturkräften einfügen. Ein Ineinander verschiedener Rhythmen war entstanden, ausgehend von den scharfen Schwarz-Weiß-Werten im Bildzentrum, von dem aus die schwunghafte Bewegung des Dampfes nach oben erfolgt, um als Sturm und Schnee seitlich wieder ins aufgewühlte Meer abzufallen.
Turners »letztes Wort« zum Dampf stand damit immer noch aus. Erst »Rain Steam and Speed. The Great Western Railway« (1844) sprach es aus. Nicht nur der fulminanten Malweise und der überaus gewagten Komposition, sondern seines Themas wegen, war es bald schon Turners berühmtestes Bild.
Mit der Eröffnung der Linie Liverpool-Manchester im Jahr 1830 hatte sich England in eine wahre »Railway-Mania« gestürzt, die bald auch auf andere Länder übergriff. Sie löste ein seltsames Gemisch aus Faszination und Grauen unter den Menschen aus, dem sich der 69jährige Turner nicht entziehen konnte. Eine solche »fearful symmetry« war dem Bild, dem letzten im übrigen, das die Malerei von einer der markantesten ingenieurstechnischen Entwicklungen schaffen konnte, von jeher anzumerken. Seine Deutungen schwankten zwischen einer Vision des apokalyptischen Tieres auf der einen Seite bis hin zur »größten Huldigung des viktorianischen Zeitalters an den Dampf« auf der anderen, mit zahllosen Varianten dazwischen.
Auf einer mächtigen, dunklen Brücke, die von rechts unten ins Zentrum des Bildes ragt und sich dort verliert, rast eine schwarze Lokomotive mit aufgesetzten grellen Lichtern nach vorne, fast direkt auf den Betrachter zu. Die Legende erzählt, Turner hätte während einer Zugfahrt den Kopf bei strömendem Regen zehn Minuten lang aus dem Abteilfenster gesteckt und dabei u.a. einen entgegenkommenden Zug beobachtet. Wie dem auch sei, Brückenerlebnisse waren im frühen Eisenbahnzeitalter besonders angetan, die radikale Veränderung aller gewohnten Wahrnehmungsweisen, die »Entrückung der Landschaft«, rasche Bilderfolgen, eine »panoramatische« Sichtweise u.a. zu belegen. Und wirklich sieht man links und rechts der Brücke hinunter und zurück auf eine idyllische Flußlandschaft mit winzigen Menschen und Booten, goldverklärtem Gebüsch, zur Rechten einen pflügenden Bauern. Am Varnishing Day fügte Turner noch einen ebenso winzigen Hasen, auf den Geleisen vor dem Zug fliehend, hinzu.
Hier war die Eisenbahn wirklich Sinnbild des Neuen geworden, vor dem Natur zu weichen hatte. Euphorische Stimmungen bestätigt das Bild ebenso wie die tief pessimistischen; eine eindeutige Zuordnung zu einer der beiden chromatischen Reihen ist nicht möglich. Doch ohne Zweifel entstammt es der dunkleren Seite, fungiert die kompositionelle Einheit von Brücke und Eisenbahn als Transformation des Wurms, der Pythonschlange, des Hesperidendrachens, des Polyphem und anderer nächtiger Ungeheuer, die Turners Werk kontinuierlich durchzogen, zumeist eng an ihr jeweiliges Umfeld geschmiedet. Wie sich aber in der Farbtheorie die Dunkelheiten nicht mehr durch Abwesenheit von Licht, sondern durch pigmenthafte Eigenwerte definierten, so fügte sich auch die Great Western Railway nicht mehr restlos dem Aufstand der Finsternis und des Bösen ein. Die Polyvalenzen des Ausdrucks verschlangen die klare Moralität. Der Zutritt in den Bildhintergrund, ins reine Licht, sollte vom »Angel in the Sun« verwehrt werden, nach vorne aber war der Weg offen.
Behutsam, in sachten, schrägen Pinsellagen, deutete Turner das alte Wirbelmotiv an, welches immer für das Gesamte und Kreisläufige, Einsaugende wie Ausspeiende von Natur stand. Nun brescht die Lokomotive heran, um mitten durchzustoßen. Natur flieht, fällt ab, bleibt zurück und versinkt; ein Neues, Un- nicht Widernatürliches hebt von ihr ab.
Im Dampf war der turbulente Wirbel der Natur gebändigt; die dämonischen Wasser- und Feuermächte wurden Milton, Füssli und Blake entrissen; sie vereinigten sich zu nie gespürter Kraft: Geschwindigkeit, die zentrale Kategorie des Neuen, war die Folge. Turners Ausweichen vor der kulturell bedächtigen bürgerlichen Welt war somit nicht romantisch, pessimistisch und rückschrittlich begründet, vielmehr eilte er, ganz ihrem
technischen und wirtschaftlichen Elan entsprechend, weit in die Moderne voraus. Mit deren dynamischen Wirkkräften wollte auch seine visionäre, intelligible und expressive Malerei sich identifizieren. Denn dieser war nicht mehr an einer malerischen Harmonie parallel zur Natur, wie noch im Polyphem, gelegen, sondern an einer mehrwertigen Chromatik parallel zur Gesellschaft.