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Titel: Globale · von Michael Hübl · S. 230 - 237
Titel: Globale , 2015

Bittere Bestandsaufnahme

„Das Tribunal. Ein Prozess gegen die Verfehlungen des 20. Jahrhunderts“
Einige Passagen und unvollständige Begleitnotizen zu einem Panorama des Terrors und des Schreckens

von Michael Hübl

Longue durée kann bis in die aktuelle Krimiliteratur fortwirken. Die in Paris beheimatete Mittelalter-Archäologin Frédérique Audoin-Rouzeau, die als Ausgleich, Alternative und Ergänzung zu ihrer Forschungsarbeit für das Centre nationale de la recherche scientifique (CNRS) unter dem Pseudonym Fred Vargas Kriminalromane verfasst, hat ihr historisches Interesse neuerdings auf die Französische Revolution fokussiert. In Temps glaciaires1 schildert sie eine besondere Form von Reenactment: Eine mehrere Hundert Mitglieder umfassende Vereinigung trifft sich regelmäßig, um in historischen Kostümen die Versammlungen des Nationalkonvents nachzuspielen. Wie schon Georg Büchner in seinem Drama Dantons Tod stützen sie sich auf die überlieferten Redemanuskripte und Protokolle, um die Auseinandersetzungen zwischen Girodins, Montagnards und den anderen Akteuren der jungen Republik ein ums andere Mal nachzustellen.

Audoin-Rouzeau alias Vargas akzentuiert mit literarischen Mitteln ein historisches Moment, das einmal zu einem Leitmotiv der Moderne werden sollte. Die Forderungen und Maximen, die mit dem Sturm auf die Bastille und den nachfolgenden Ereignissen verbunden werden, gelten als konstitutiv für das westliche Demokratiemodell, aber auch die Bolschewiki sahen sich in einer Traditionslinie, auf welcher der Sturz der Monarchie in Frankreich eine wichtige Station markiert. Die Kontinuität des von den Idealen Liberté, Égalité, Fraternité beflügelten Umbruchs scheint derart fest und nachhaltig in die Geschichte eingeschrieben, dass sie sich als Selbstverständlichkeit darstellt und deshalb die Persistenz eben jenes Moments übersehen werden könnte, das in Temps glaciaires romanhaft ausgemalt wird. Es ist das Moment…


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