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Monografien / Gespräche mit Künstlern · von Michael Stoeber · S. 202 - 213
Monografien / Gespräche mit Künstlern ,

Camille Henrot

Unerhört und ungesehen
Ein Gespräch von Michael Stoeber

2013 zeigte Camille Henrot auf der Biennale von Venedig ihren Videofilm „Grosse Fatigue“. Mit ihm wurde die damals 35-jährige Pariser Künstlerin, die Animationsfilm studiert hat, schlagartig bekannt. In dem brillanten, nur 13 Minuten dauernden Bilderwirbel des Werks hat sie klug und unterhaltsam sowohl die Schöpfungsgeschichte als auch die Entwicklung des menschlichen Wissens inszeniert. Ihre visuelle Tour de Force wurde von der Jury mit dem Silbernen Löwen belohnt. Gefertigt hatte Henrot ihren Film als Stipendiatin der Smithsonian Institution in Washington DC, dem größten Museumskomplex der Welt. Auch wenn Filme einen gewichtigen Teil ihrer Kunst darstellen, ist sie bei ihnen allein nicht geblieben. Das machte letzthin eine Ausstellung in der hannoverschen Kestner Gesellschaft deutlich. Darin präsentierte die Künstlerin zwar auch ihren vorläufig neuesten, ebenfalls eindrucksvoll choreografierten Film „Saturday“ (2017), der zeitgenössische Erlösungsfantasien, primär die der Siebenten-Tags-Adventisten, zum Thema hat. In der Hauptsache aber waren Gemälde sowie umfangreiche Serien von Zeichnungen zu sehen, die Henrot zum großen Teil während des Lockdowns in New York geschaffen hatte. Sowie eine bedeutende Versammlung ihrer Skulpturen und Installationen aus verschiedenen Jahren. Diese Werke bestechen durch die gelungene Zusammenführung unterschiedlicher ästhetischer Sprachen und die Vielfalt der in ihnen verhandelten Themen. Über Form und Inhalt ihrer Kunst sprach Michael Stoeber mit Camille Henrot, die vor einiger Zeit zum zweiten Mal Mutter geworden ist.

Michael Stoeber: Madame Henrot, die Einladungskarte der hannoverschen Kestner Gesellschaft zu Ihrer Ausstellung verzeichnet lediglich Titel Ihrer Werke ohne Bilder. Sie sind wie ein Gedicht arrangiert. Welche Rolle spielt die Sprache für Ihr Werk?

Camille Henrot: Eine sehr große. Seit Jahren stelle ich Wortlisten zusammen. Begriffe, Ausdrücke und Phrasen, die mir auffallen und sich mir einprägen. In den verschiedenen Sprachen, die ich verstehe und spreche, Französisch natürlich, aber auch Englisch und Italienisch. Diese Wortlisten entstehen als Folge meiner Lektüre von Büchern und Zeitschriften oder von Gesprächen, die ich führe. Anregungen bieten mir aber auch die Straße und der öffentliche Raum in Form von Anzeigen und Werbeslogans. Diese Wortlisten inspirieren mich häufig zu künstlerischen Werken.

Seit wann machen Sie das?

Seitdem ich in New York lebe, seit ungefähr zehn Jahren. Da ich keine Muttersprachlerin bin, stoße ich häufig auf Ausdrücke und Begriffe, die eine Aura und ein Geheimnis für mich haben, was ich als äußerst anregend empfinde. Irgendwann erreicht eine Liste, die ich angefangen habe, ihr Ende. Dann beginne ich mit einer neuen Liste. So wirken sie in der Tat ein wenig wie Gedichte.

Am Anfang eines Werkes von Ihnen steht also ein sprachlicher Ausdruck. Heißt das, den Bildern Ihrer Kunst gehen immer Worte und Begriffe voraus?

Bei meinen Bildern und Zeichnungen ist das häufig der Fall. Aber es handelt sich nicht um ein System. Ich darf Ihnen ein Beispiel geben. Der vorläufig letzte Begriff meiner aktuellen Liste lautet „The tipping-point“. Das heißt nicht, dass jetzt notwendig ein Werk entsteht, das so heißt. Aber das Wort erinnert mich an die Stimmung und die Situation, in denen es mir auffiel. Damit arbeite ich. So bin ich beispielsweise bei einem Werk zum 80. Geburtstag von Sigmar Polke in diesem Jahr für die Stiftung seiner Tochter Anna von den Phrasen „Biting the hand that feeds“ und “There is no smoke without fire” ausgegangen.

Beide Beispiele machen sehr schön deutlich, dass den Sätzen, Worten und Begriffen, die Sie sich notieren, immer auch ein Bild anhaftet.

Nicht nur eines, sondern viele. Oft entstehen ganze Bildserien aus einer einzigen sprachlichen Wendung. Es ist aber regelmäßig auch die Musikalität eines Ausdrucks, die mich leitet und nicht unbedingt seine Semantik.

Ihr künstlerisches Werk umfasst nicht allein Zeichnungen und Gemälde, sondern ebenfalls Skulpturen und Installationen und vor allem auch Filme. Wie gehen Sie bei Ihren Filmen vor?

Bevor ich mit einem Film beginne, lese und schreibe ich viel und spreche mit Menschen, die von der Sache, die ich verhandeln will, etwas verstehen. Das ist ein oft langer Prozess. Für den Film „Grosse Fatigue“ habe ich drei Jahre gebraucht, für „Saturday“ sogar sechs.

Die Fetischisierung der Rolle der biologischen Mutter ist ein neues Konzept, das aus dem 19. Jahrhundert stammt.

Sie haben ursprünglich Animationsfilm studiert und sich erst dann weiteren Medien zugewandt. Was war der Grund dafür?

Ich war am Animationsfilm interessiert, weil er meiner Vorstellung von einem Gesamtkunstwerk entspricht: Er besteht aus Bildern, Zeit, Bewegung und Klang. Sein Charakter lädt förmlich ein zu künstlerischen Experimenten, was ich als äußerst anregend empfinde.

Und wie kam es zu Ihrer Hinwendung zur Skulptur?

Sie verdankt sich meiner Freundschaft zu dem Künstler, Architekten und Stadtplaner Yona Friedman. Ich habe ihn vor vielen Jahren auf der Biennale in Venedig kennengelernt und danach oft besucht. Zu sehen, wie aus seinen Zeichnungen dreidimensionale Objekte entstanden, hat mich inspiriert und ermutigt, selbst Skulpturen zu fertigen.

Sie haben einmal über die Skulptur gesagt, sie sei für Sie gelungen, wenn sie Ihnen Lust mache, mit ihr zu kuscheln. Trifft das auch für Ihre drei Meter hohe Skulptur „3,2,1“ zu, die Sie für Hannover neu geschaffen haben? Oder meinten Sie damit eher kleinere Werke wie Ihre „Overlapping Figures“?

Nein, durchaus auch größere Werke. Sie sind ja nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sie uns durch ihre Größe Schutz versprechen. Bei „3,2,1“ ist das indes etwas anders. Nicht wegen ihrer Größe, sondern weil die Skulptur eng mit dem Motiv der Verwüstung der Welt verbunden ist und der Trauer darüber.

Der Titel des Werks erinnert mich an den Countdown bei einem Raketenstart.

Genau daran dachte ich. Aber nicht als Signal des Aufbruchs, sondern als Notruf. Ich hatte dabei auch ein französisches Kinderspiel im Sinn, „Un, deux, trois, soleil“, bei dem es um Bewegung und Stillstand und zugleich um Gewinnen und Verlieren geht.

Die instabile Position soll uns daran erinnern, dass es keinen sicheren Ort gibt und dass gerade der häusliche Ort – denn der soll ja sicher sein – ein Ort schrecklichster Szenen sein kann.

„3,2,1“ ist eine hybride Skulptur aus Frau und Vogel, die mythische Züge trägt. Man denkt an einen Phönix aus der Asche, aber auch an die drohende ökologische Katastrophe und an Mutterschaft. Letzteres ein Thema, das in Ihrer Ausstellung verschiedentlich vorkommt.

Wobei ich das Wort Mutterschaft nicht sehr schätze. Es lenkt den Blick zu stark auf die Rolle der Mutter. Die Gesellschaft legt ihr die Verantwortung für das Kind auf die Schultern. Die Sorge um das Kind sollte aber nicht ausschließlich die Aufgabe der Mutter und des Vaters sein. Sie stellt meiner Meinung nach eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung dar. Indem man sich dabei aber gerne prioritär auf die Rolle der Mutter fokussiert, schiebt man ihr die Verantwortung für das Gelingen oder Misslingen dieser Aufgabe zu. Die Folge ist ein starkes Schuldgefühl der Mutter, bei allem was sie tut, was ihre Fürsorge eher beeinträchtigt. Die Fetischisierung der Rolle der biologischen Mutter ist ein neues Konzept, das aus dem 19. Jahrhundert stammt. Früher in Zeiten der Großfamilie waren viel mehr Menschen für das Wohlergehen eines Kindes verantwortlich.

Wobei das Schuldgefühl auch eine Folge der engen Mutter-Kind-Beziehung ist.

Ja. Als Mutter fühlt man sich, weil man sein Kind bedingungslos liebt, immer in der Verantwortung für sein Glück. Aber man fühlt sich auch schuldig, weil man glaubt, einzig und ausschließlich für das Wohlergehen des Kindes verantwortlich zu sein, selbst wenn man bei diesem Unternehmen allein gelassen wird.

Sicher schwierig, in der Situation Balance zu halten zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen des Kindes.

Es wäre leichter, wenn das Bild der sich aufopfernden Mutter nicht länger als Idealvorstellung in unseren Köpfen herumgeistern würde.

Ihre hybriden Werke wecken widersprüchliche und ambivalente Emotionen. Gewinnt oder verliert man als hybride Figur an Persönlichkeit?

Hybride Mann-, Frau-, Tier- und Pflanzen-Figuren sind seit langem Teil meiner künstlerischen Arbeit. An Verluste denke ich dabei gar nicht. Ich stelle sie mir eher als eine Art Glücksbringer vor, die verschiedene Attribute von Macht in sich vereinen. So wie in Werken der griechischen und römischen Kultur, wenn den Protagonisten durch einen gewaltigen Kopf oder Phallus Kraft zuwächst. Das führt zwar zu grotesken Figuren. Aber auch zur Beschwörung von Reichtum und Überfluss.

Eine Devise der Frauenbewegung der 1970er Jahre lautete, das Private sei immer auch politisch. Sehen Sie auch das Mutter-Kind-Verhältnis so?

Unbedingt. Die Erfahrungen, die ein Kleinkind macht, bestimmen sein späteres Leben. Seinen Lebensstil, seine Sexualität, seine Fähigkeit zur Einfühlung, sein Verhältnis zum Nächsten. Es ist tragisch, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Menschen, die Sorge für andere tragen, so wenig Anerkennung erfahren. Ich kann mir in politischer Hinsicht nichts Revolutionäreres vorstellen als eine Gesellschaft, die die Fürsorge, die wir einem Kind angedeihen lassen, als wirtschaftliche Leistung würdigen würde.

Ist es richtig, dass die dialektische Beziehung zwischen dem Politischen und Privaten auch das Thema Ihrer Kunst und dieser Ausstellung ist?

Ja, das ist richtig. Aber für mich sind diese Kategorien tief miteinander verbunden. Sie in bloßer Opposition zueinander zu sehen, hieße für mich, sie künstlich voneinander zu trennen.

Bereits der Titel Ihrer Ausstellung, „Mother Tongue“, intoniert eine dialektische Struktur: Die Sprache als System und die Zunge, die spricht.

Ich habe mich bei der Wahl des Titels von einer Vorlesungsreihe von Roland Barthes inspirieren lassen: „Wie zusammen leben?“. In ihm analysiert er den autoritären, oft sogar faschistischen Charakter der Sprache und wie wir unsere Freiheit ihr gegenüber behaupten können.

Das erste Werk Ihrer Ausstellung operiert mit dem falsch geschriebenen Titel „Biggr cages! Logner chains!“. Ist diese Dekonstruktion ein Ausdruck von Freiheit gegenüber der Sprache, wie sie ähnlich auch die Dadaisten praktiziert haben?

Ganz genau. Der Titel geht zurück auf einen anarchistischen Slogan und ist Teil eines kurzen Gedichts, das von der Sprache des Internets und den Sozialen Medien inspiriert wurde. Ich habe es zusammen mit Jacob Bromberg geschrieben, einem amerikanischen Dichter, der in Paris lebt. Mit ihm habe ich auch den Text für „Grosse Fatigue“ geschrieben.

In Nachbarschaft dazu wird der Film „Saturday“ gezeigt. Warum haben Sie ihn in 3D gedreht?

Ich habe eine nostalgische Neigung zu Dingen, die zu verschwinden drohen. Außerdem ist 3D irgendwo zwischen dem traditionellen Film und Augmented Reality angesiedelt und daher von hoher Künstlichkeit. Als schaue man in eine Glaskugel oder ein Aquarium. Was ich reizvoll fand, um die Wirklichkeit der Siebenten-Tags-Adventisten zu zeigen, die abgeschlossen, selbstbezogen und autonom innerhalb der Gesellschaft leben. Das scheint mir die amerikanischen Verhältnisse wie unter einem Vergrößerungsglas zu spiegeln.

Im Obergeschoss der Kestner Gesellschaft sieht man eine Reihe kleinformatiger Gemälde, die den Titel „Is Today Tomorrow?“ tragen. Sie haben sie im Lockdown in New York angefertigt. Wie haben Sie den erlebt?

Diese Werke anzufertigen, haben mir in einer Situation, die ihre gewohnte Struktur völlig verloren hatte, ein wenig Struktur gegeben. Ich habe mich jeden Tag hingesetzt, um zu malen. Kleine Formate, die ich am Küchentisch ausführen konnte.

Könnte man diese Werke der Serie „Is Today Tomorrow?“ als eine Art von Tagebuch beschreiben?

Ja. Obwohl ich häufig nichts Bestimmtes über einen spezifischen Tag berichte. Es sind eher Tagträume und Stimmungen, denen ich nachgehe.

Neben den Gemälden finden sich Bronze-Skulpturen wie „Story of Substitute“, „Mon corps de femme“ oder „Celui qui a faim“. Letztere wirkt mit ihren drei Zungen surrealistisch. Ist das eine Kunstrichtung, an der Sie sich gelegentlich orientieren?

Wenn ich neue Arbeiten mache, denke ich nicht besonders stark an bestimmte Kunstrichtungen. Sondern ich lasse mich eher von Dingen inspirieren, die für mich mit Kunst zu tun haben, aber nicht unbedingt Kunst sind: Psychoanalyse, soziale Medien, Gespräche, die ich verfolge, Musik, Selbsthilfe, Online-Beiträge.

Man könnte bei der Betrachtung von „Celui qui a faim“ auch vermuten, dass Sie eine Vorliebe für den rhetorischen Topos der Wiederholung hegen.

Dem stimme ich sofort zu. Die Wiederholung als Mittel der Verstärkung, um das Interesse des Betrachters zu wecken, verwende ich sehr gern. In „Grosse Fatigue“ wird jeder neue Abschnitt mit „In the beginning“ eingeleitet. Und in „Celui qui a faim“ nutze ich die Wiederholung, um zu übertreiben und zu verwirren. Man fragt sich: Was bedeutet das? Isst die Figur ihre eigenen Zungen? Die Skulptur verdankt ihr Entstehen einer physischen Empfindung.

Für mich ist die Schwangerschaft eine Übergangsphase, in der Geschlechterkategorien radikal in Frage gestellt werden.

Dem Hunger in der Schwangerschaft, den Sie einmal erwähnten? Aber davon würde der Titel ablenken. Dann hätte es ja heißen müssen: „Celle qui a faim“.

Nein. Denn es ging mir darum, diesem überwältigenden Hungergefühl unabhängig von mir Gestalt zu verleihen. So wie man auch Emotionen wie Wut oder Ärger personalisiert.

Dann wollten Sie eine Allegorie schaffen?

Nicht unbedingt. Für mich ist diese Skulptur persönlich und zugleich auch nicht. Allerdings ist es in dem Zusammenhang immer wieder verstörend festzustellen, wie Themen, die mit der Biologie von Frauen zu tun haben, als rein persönliche bezeichnet werden, während die Erfahrungen von Männern als universelle und ihre intimen Erfahrungen als für alle Menschen relevante betrachtet werden. Die Themen von Frauen werden immer gern als lediglich persönliche und anekdotische verstanden. Für mich ist die Schwangerschaft eine Übergangsphase, in der Geschlechterkategorien radikal in Frage gestellt werden. Durch die Schwangerschaft habe ich mich wie ein Mann gefühlt. Ich habe mich wie ein Mann gekleidet, saß wie ein Mann in der U-Bahn und bin wie ein Mann auf der Straße herumgelaufen. Ich mag die Karikatur des alten Bourgeois aus dem 19. Jahrhundert, der seinen Bauch stolz vor sich herträgt. Mein Körper nahm plötzlich so viel mehr Platz ein, dass es schwierig wurde, mich nach der Schwangerschaft wieder mit weniger zu begnügen.

Eine andere Skulptur, gleichfalls aus Bronze, zeigt eine Matratze als schiefe Ebene auf zwei umgekippten Stühlen. Sie erinnert mich an ein Slapstick-Bild über die Schwierigkeit, Balance zu finden. Wie wichtig ist Ihnen Humor?

Sehr wichtig. In Ohnmacht und Verzweiflung kann Humor ein Mittel sein, um sich zu verteidigen. Die Matratze zeigt hier als Metonymie das Häusliche, üblicherweise ein Ort von Rückzug und Sicherheit. Die instabile Position soll uns daran erinnern, dass es keinen sicheren Ort gibt und dass gerade der häusliche Ort – denn der soll ja sicher sein – ein Ort schrecklichster Szenen sein kann.

Es ist tragisch, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Menschen, die Sorge für andere tragen, so wenig Anerkennung erfahren. Ich kann mir in politischer Hinsicht nichts Revolutionäreres vorstellen als eine Gesellschaft, die die Fürsorge, die wir einem Kind angedeihen lassen, als wirtschaftliche Leistung würdigen würde.

Weist darauf der Titel der Skulptur hin, „Dormire con la luce accesa“ (Bei eingeschalteten Licht schlafen)?

Sehr richtig. Ich habe den Satz, großgeschrieben, in römischen Fenstern gesehen. Ein Freund erklärte mir seine Bedeutung. Fans verbreiten diese Botschaft, wenn ihre Fußballmannschaft schlecht gespielt hat und in die Heimatstadt zurückkehrt. Sie warnt die Spieler: „Passt bloß auf! Lasst heute Nacht besser Euer Licht an, denn wir werden kommen und Euch verprügeln.“

Sie interessieren sich für Fußball?

Nicht sehr. Ich war nur neugierig zu erfahren, was dieser Satz bedeutet, den ich überall in Rom sah, während ich an den „Monday“-Fresken gearbeitet habe.

Zusammen mit der grotesk hybriden Skulptur „Contrology“ zeigen Sie diese Fresken auch in Hannover. Ihr Titel verweist auf den Mond und seine kultische Bedeutung. Verstehen Sie Ihre Fresken als Memorial der Melancholie?

Sie wurden seinerzeit in Rom in meiner Einzelausstellung “Monday” präsentiert, deren Thema der Widerstand gegenüber allen möglichen Formen gesellschaftlicher Ansprüche und Forderungen war. Dazu gehört auch das Recht auf Nichtstun wie die Vernachlässigung von Disziplin und Ordnung. Sie kennen das Konzept des Blauen Montags? Solch eine Arbeitsverweigerung kann sich am Ende als sehr produktiv erweisen. Denken Sie an Italo Svevos wunderbaren hypochondrischen Müßiggänger und Antihelden Zeno Cosini! Ich liebe es, wie er versucht, sich das Rauchen abzugewöhnen und dabei immer wieder seine „ultima sigaretta“ raucht.

Ich sehe meine Pflicht darin, Werke zu schaffen, die komplex, ambivalent und geheimnisvoll sind.

Ihre Fresken lassen an unterschiedliche Themen und Motive denken. An Rodins „Penseur“, Dürers „Melencolia“ und den leichthändigen Zeichenstil von Matisse. Besonders beeindruckt hat mich ein Mädchen, das die Tränen, die ihr über das Gesicht fließen, in zwei Schalen sammelt. Wie sind Sie darauf gekommen?

Ich weiß nicht mehr so genau. Ich glaube, es war eine surreale Fotografie, die mich zu dem Fresko inspiriert hat. Aber mich haben auch Geschichten beeinflusst, die mir meine Großmutter als Kind erzählt hat. Sie war eine professionelle Erzählerin in der Bretagne. Wenn ich mich recht erinnere, ging es in einer um ein junges Mädchen, dessen sieben Brüder eine Hexe in Raben verwandelt hatte. Um sie zu retten, musste sie neben vielen weiteren Prüfungen ihre Tränen sammeln und der Hexe übergeben. Deshalb musste sie sich zwingen, sich selbst zu quälen, um so viel wie möglich zu weinen. Mir gefällt die Idee, dass Schmerz produktiv sein kann.

Üblicherweise fragt man das am Anfang. Lassen Sie es mich am Ende fragen: Warum wollten Sie Künstlerin werden?

Wollte ich eigentlich gar nicht. Ich fürchtete, als Künstlerin nicht genug Geld zu verdienen, um finanziell unabhängig zu sein und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Daher habe ich anfangs auch in der Werbung gearbeitet und Musikvideos gedreht. Dann war ich einen Sommer lang die Assistentin von Pierre Huyghe und sah, wie er Kunst auf eine Weise machte, dass ich Lust bekam, daran teilzuhaben.

Noch wichtiger ist mir die Frage, wie Sie Ihre Rolle als Künstlerin verstehen? Was Sie als Künstlerin von sich erwarten?

Eine sehr gute Frage! Ich sehe meine Pflicht darin, Werke zu schaffen, die komplex, ambivalent und geheimnisvoll sind. Werke, die bestehende Ordnungen und Kategorien in Frage stellen. Die den Betrachter herausfordern, über sich und die Welt nachzudenken, ohne dabei zu schnellen Antworten und Lösungen zu kommen. Mir gefällt, wie der junge Erzähler in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ einen Abend in der Oper mit dem Auftritt der von ihm verehrten Berma beschreibt, hinter der sich Sarah Bernhardt verbirgt. Er ist von dem Erlebnis so tief berührt, dass er keine Worte dafür findet, als er nach seinem Eindruck gefragt wird. Das ist meine Idealvorstellung von der Kunst. Dass sie so neu, so unerhört und ungesehen ist, dass die Betrachtenden keine Kategorien für sie haben.

CAMILLE HENROT

geboren 1978 in Paris. Lebt und arbeitet in Berlin und New York City. Studierte Animationsfilm an der École nationale supérieure des arts décoratifs, Paris. Erhielt verschiedene Kunstpreise; darunter den Silbernen Löwen der Venedig-Biennale 2013, den Nam June Paik-Preis 2014 und den Edward Munch-Preis 2015.

EINZELAUSSTELLUNGEN (Auswahl)
2021 Kestner Gesellschaft, Hannover; National Gallery of Art, Melbourne. 2020 Art Sonje Center, Seoul. 2019 Tokyo Opera City Art Gallery, Tokio. 2018 Metro Pictures, New York. 2017 Palais de Tokyo, Paris; Mori Art Museum, Tokio; Kunsthalle Wien. 2016 KW Institute for Contemporary Art, Berlin; Fondazione Memmo, Rom; Madre Museum, Neapel; Musee d’Art Contemporain de Montreal. 2015 Westfälischer Kunst verein Münster. 2014 Schinkel Pavillon, Berlin; The Baltimore Museum of Art, Baltimore; Chisenhale, London; New Museum, New York.

GRUPPENAUSSTELLUNGEN (Auswahl)
2021 Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf; Centre d’art contemporain de Genève, Genf; Museum of Former Yugoslavia, Belgrad; Grimm Gallery, Amsterdam; Liverpool Biennial, Liverpool; Copenhagen Contemporary, Kopenhagen; Villa Carmignac, Paris; Ludwig Museum, Budapest; Kunsthalle Mannheim; Biblioteca Herziana, Rom. 2020 Belgrade Biennial, Belgrad; ARKEN Museum of Modern Art, Kopenhagen. 2019 Faena Art Center Festival, Miami; R & Company, New York; Platform for Contemporary Sculpture, Tilburg; The Museum of Modern Art, New York; Castello di Rivoli, Turin; Kiasma Museum of Contemporary Art, Helsinki. 2018 LASALLE College of the Arts, Singapur; Schirn Kunsthalle Frankfurt; Frankfurt, Louisiana Museum, Humblebaek; Heide Museum of Modern Art, Melbourne; MRAC Sérignan; Le Fresnoy – Studio national des arts contemporains, Tourcoing; Institute of Contemporary Art, Boston; Centro Cibeles de Cultura y Ciudadanía, Madrid. 2017 Hirshhorn Museum, Washington; Momenta Biennale, Montreal; National Gallery of Victoria, Melbourne; Castello di Rivoli, Turin. 2016 MOSTYN, Wales; 20th Biennale of Sydney, Sydney; Australian Center for Contemporary Art (ACCA), Southbank.