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Titel: Vilém Flusser · von Jochen Bloss · S. 77 - 77
Titel: Vilém Flusser , 1992

Jochen Bloss
Die endgültige Heimkehr des Vilém Flusser

Ende November ist Prag besonders geheimnisvoll, bedrückend oder fremd, ja vielleicht sogar vertraut, ganz nach der Sichtweise seines Betrachters. Kein gebürtiger Prager kann sich der Anziehungskraft der brückenreichen Stadt an der Moldau entziehen. Aus dem erzwungenen Exil kehren in den Jahren nach der Öffnung Unzählige zurück, viele auf Besuch, manche für immer. Wenn jemand nach den 50 Jahren der Emigration heimkehrt, dann hat das Dimensionen des verlorenen Sohnes oder des Odysseus nach seinen Irrfahrten. Beide Vergleiche haben ihre Berechtigung für den Kommunikationsphilosophen Vilém Flusser, der 1920 in einer jüdischen Familie in Prag geboren wurde und nun nach einem internationalen Werdegang als anerkannter Wissenschaftler erstmals zu Vorträgen in seiner Geburtsstadt weilt.

Dichter Nebel verhüllt den Hradschin, die Karlsbrücke ist menschenleer nach kaum überstandenem Massentourismus im Sommer 91, die Laternen in der Altstadt geben ein gespenstisches Licht in den verwinkelten Gassen – der Golem scheint leibhaftig gerade um die Ecke gehuscht zu sein. In dieser seit Jahrzehnten vermißten, legendenumwitterten Welt fühlt sich Vilém Flusser zu Hause, denn auf der Kleinseite und in der Altstadt hat sich seit seiner von den Nazis erzwungenen Flucht 1939 fast nichts verändert. 30 Jahre verbrachte er unter der gleißenden Tropensonne Brasiliens, seit 20 Jahren lebt er im extremen Licht der Provence. Und jetzt läuft er zusammen mit seiner Frau, die alle Stationen des Lebens miterlitten hat und nun an seinen Erfolgen teilnimmt, auf altvertrauten Pfaden der Kindheit über das feuchte, im dämmerigen Laternenschein glänzende Kopfsteinpflaster. Erinnerungen an die Eltern werden wach,…


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