Paolo Bianchi
Die Kunst der Selbstdarstellung
Ästhetisches Dasein zwischen Erscheinen, Existenzialismus, Existenzsetzung und Selbstkultur
Eine Reflexion über die Kunst der Selbstdarstellung stellt Fragen nach der Ausstellung, der Inszenierung und der Präsentation des eigenen Selbst. Der Mensch lebt mit seinem Schauspieler-Ich in der permanenten Inszenierung des Selbst. Einer Zurschaustellung des Ichs vor anderen kann er nicht entkommen. Wenn sich die Selbstdarstellung in der Kunst und diejenige im Alltag immer ähnlicher werden, machen die Nuancen den Unterschied. Die Kunst der Selbstdarstellung findet sich nicht im Gestus von Provokation und Subversion, sondern setzt auf die (kleine) Abweichung, auf die Abversion. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Die Kunst der Selbstdarstellung lebt von Protagonisten, die sich widerständig zeigen und in der Präsentation ihrer «Selbstwerke» schwer durchschaubar oder undurchschaubar bleiben. Der Selbstdarstellungs-Künstler setzt sich ab durch den Wunsch zur Differenz: «Um ein Selbst zu sein, muss ich anders sein als die anderen.» – «Ich bin, indem ich mich unterscheide.» – «Was ich bin, erfahre ich nur im Unterschied zu den anderen.» Die Selbstverschleierung im Alltag wird von der Kunst in eine Form der Selbststeigerung transponiert. Für diese Lebens-Steigerung stellt der Selbstdarsteller sogar das gewöhnliche Leben zur Disposition. Für ihn existiert, was Adorno bestreitet: ein richtiges Leben im falschen. Seine Selbsterfindung kann gelingen, auch wenn dem alles entgegensteht.
Die Kunst der Selbstdarstellung hat das Selbst zum Fokus. So gilt auch, dass sich das Selbst aus dem Akt der Selbstdarstellung generiert. Die unverstandene Rede vom Tod des Subjekts wird durch das Prinzip der Selbstdarstellung überwunden oder durch sie als Gegenspielerin erst vollendet. Für die Selbstdarstellung heisst das: Subjekte werden produziert. Selbstdarstellung hat mit Personen und ihrem Erscheinen vor anderen Personen zu tun. Sie hat mit Zurschaustellung, Spiel, Darstellung und Handeln zu tun. Sie hat mit Doppeldeutigkeiten zu tun: mit Erhabenem und Ludischem, mit Vortäuschung und Ernst, mit Selbstmystifizierung und Selbstanklage. Selbstdarstellung hat mit der Existenz von konkreten Situationen zu tun, in denen das Sich-Kleiden, Bewegen und Sprechen von grosser Bedeutung sind. Sie geben Auskunft über die gesellschaftliche Situierung einer Person. Ein Selbstdarsteller formt sich in der aufmerksamen Anwesenheit von Menschen und in der ästhetischen Entfaltung in seiner Mitwelt.
«Die Revolution sind wir» durchschreitet Beuys lebensgross mit riesigen Schritten, in der für ihn typischen Kleidung – Hemd, Fischerweste, schwere Stiefel und Filzhut – den gepflasterten Hof der Villa Orlandi in Neapel. Der Eindruck von entschlossenem Voranschreiten, die geballten Fäuste und der ernste Gesichtsausdruck präsentieren ihn als «Anführer» der im Werktitel angekündigten Revolution. Die Hyperrealität dieser Arbeit verfehlt nicht den Effekt einer Aufforderung, sich seinem Revolutionsmarsch anzuschliessen. Dieser Revolutionsgestus präsentiert sich nicht als Ausdruck oktroyierter Verordnung zum Aufstand, sondern schlägt seinen Impuls im Einzelnen und in dessen Kreativität frei. Exemplarisch nimmt er die Haltung eines Revolutionärs ein, inklusive des Verweises, dass dieser in jedem Menschen abrufbar ist, da in jedem von uns ein Künstler – eine kreative Kraft – steckt. Beuys’ Botschaft würde heute lauten: Um die Globalisierung zu gestalten, muss das Individuum zuvor sich selbst gestalten.
Fraglos, die Kunst der Selbstdarstellung benötigt viel vom Schattenwurf der Aufmerksamkeit. Durch Schreien lenkt das Neugeborene die Aufmerksamkeit auf seine Gegenwart und die Bedürftigkeit von Zuwendung. Heranwachsende werden leidenschaftlich, wenn es darum geht, auf sich aufmerksam zu machen. Es ist, als würden sie antizipieren, dass nur ein ausreichend grosses Mass an erhaltener Aufmerksamkeit ihnen hilft, Kränkungen und Nichtbeachtungen im Leben besser zu ertragen. Wer auf dem Arbeitsmarkt reüssieren will, braucht notwendigerweise USPs, Unique Selling Propositions, als einen Nachweis von Einzigartigkeit. Und ohne die Bereitschaft zum Self-Management stehen die Chancen schlecht. Die Kunst der Selbstdarstellung ist somit als Aspekt des Alltags auch Teil einer Überlebensstrategie und existenzielle Notwendigkeit.
Über die Kunst der Selbstdarstellung nachzudenken, heisst, über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nachdenken. Das meint eine Auseinandersetzung darüber, wie eine abweichende Selbsterfindung heute noch möglich sein könnte, ohne von einer globalen Bewusstseins- oder Kulturindustrie gleich wieder eingeholt, gerahmt, reproduziert, sozialisiert oder demokratisiert zu werden.
(Nicht) selbst Revolution machen
Genauso oft wie Selbstdarsteller in multiplen Stimmen von sich selbst sprechen, verdichten sich in ihnen verschiedene Charaktere zu einer einzigen Person. In seinem Jahrhundertwerk «Buch der Unruhe» (entstanden in unregelmässigen Abständen zwischen 1913 und 1934) lässt Fernando Pessoa den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares scheinbar wirre Sätze sagen: «Ich habe nicht einmal geschauspielert. Ich war die Rolle, die gespielt wurde. Ich war nicht der Schauspieler, ich war sein Spiel.» Soares’ komplexe Persönlichkeit entzieht sich der eindimensionalen Abbildung. «Ich» ist nicht nur ein anderer, wie es noch bei Rimbaud heisst, sondern das sind viele andere, ein schillerndes, facettenreiches Gebilde ohne klare Konturen.
Das Alter ego Bernardo Soares ist eine der vielen Dichter-Stimmen Pessoas, die der portugiesische Schriftsteller Zeit seines Lebens immer wieder sprechen liess. Er nannte sie «Heteronyme». Das sind unabhängig voneinander existierende Masken, die Pessoa nach komplizierten Berechnungen der Horoskope mit Lebensdaten, Herkunft, Haarfarbe, Charaktereigenschaften, poetologischen Überzeugungen und einem eigenen Werk versah. Neben Soares stossen wir auf den grossen Lehrmeister Alberto Caeiro, der gegen die Philosophie und die Metaphysik wettert und in freien Versen die einfache Anschauung der Natur preist. Oder der ungehorsame Schüler Caeiros namens Ricardo Reis, Arzt von Beruf, den Pessoa als Vertreter klassizistischer Ideen ins Spiel bringt. Pessoas viertes Geschöpf, der ungestüme Álvaro de Campo, präsentiert sich als monokeltragender Futurist und Provokateur mit Dandyattitüden. Abwechselnd nahm Pessoa die Rollen seiner verschiedenen Dichter-Figuren ein, schrieb mal aus der einen, mal aus der anderen Existenz, benutzte zwischendurch auch noch seinen eigenen Namen und praktizierte lustvoll den befreienden Ich-Zerfall. Um in seiner künstlerischen Entwicklung für eine neue Radikalität bereit zu sein, distanzierte er sich als de Campo von den herrschenden ästhetischen Strömungen, die er mit Caiero gerade eben erst begründet hatte.
Selbstdarsteller spielen mit den Möglichkeiten einer wirklichen und einer fiktiven Identität. Dabei suchen sie einen fiktiven Körper, nicht aber eine fiktive Person. Man kann zwar einen anderen kopieren: sich die Haare färben, an Körpergewicht zu- oder abnehmen, den Gang nachahmen, die gleichen Kleider tragen, Schriftzug, Redewendungen und Lebensstil übernehmen. Doch wie kann es gelingen, sich die Ziele, Ideale, Erwartungen, Leidenschaften und Erfahrungen eines anderen anzueignen?
Pessoas Zeitgenosse Robert Musil hat im «Mann ohne Eigenschaften» (1931-1943) den Möglichkeitssinn für das Vielfältige an Eigenschaften entwickelt und im Leben des vollständig formbaren Mannes Ulrich die Flexibilität zur wichtigsten erhoben. Und wenn «die meisten Menschen im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler sind» (Musil), dann entwickelt sich diese Erzählung nicht entlang eines Lebensfadens, sondern als «Ausweitung einer Kampfzone» (Michel Houellebecq):
«Es fiel ihm ein, dass das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, dass man sagen kann: ‚Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!’ Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ‚Faden der Erzählung’, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. … Und Ulrich bemerkte nun, dass ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden’ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.» (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 650; siehe zur Flexibilität und zur Faden-Metapher den Text «Das Selbst als (roter) Faden» in diesem Band.)
Eine Person ist das Konstrukt verschiedener Möglichkeiten, die über die Biografie weit hinausweist. Erst die Vielfältigkeit bietet eine Gewähr für Konstanz. Die umfassende Kunsttheorie von Joseph Beuys mit dem Satz «Jeder ist ein Künstler» meint die prinzipielle Möglichkeit, an jenes Schöpferische zu gelangen, das in jedem von uns steckt. Beuys hatte sich als Person und Kunstfigur immer wieder eindrucksvoll in Szene gesetzt und zum zentralen Thema seines Schaffens gemacht. Mit der Konsequenz, dass den wenigsten sein Werk, vielen jedoch sein Bild vertraut ist. In der Arbeit «Die Revolution sind wir» (1971) durchschreitet Beuys lebensgross mit riesigen Schritten, in der für ihn typischen Kleidung – Hemd, Fischerweste, schwere Stiefel und Filzhut – den gepflasterten Hof der Villa Orlandi in Neapel. Der Eindruck von entschlossenem Voranschreiten, die geballten Fäuste und der ernste Gesichtsausdruck präsentieren ihn als «Anführer» der im Werktitel angekündigten Revolution. Die Hyperrealität dieser Arbeit verfehlt nicht den Effekt einer Aufforderung, sich seinem Revolutionsmarsch anzuschliessen. (Abb. 1)
Dieser Revolutionsgestus lässt sich nicht als Ausdruck oktroyierter Verordnung zum Aufstand missverstehen, sondern schlägt seinen Impuls im Einzelnen und in dessen Kreativität frei. Es bestätigt Beuys Vorstellung, in der Kunst die einzig relevante revolutionäre Kraft zu sehen. Für ihn können sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nur durch den künstlerisch kreativen Menschen ändern. Hier vollzieht Beuys den Wandel von einer autonomen zu einer experimentellen und ebenso politisch argumentierenden Kunst. Exemplarisch nimmt er die Haltung eines Revolutionärs ein, inklusive des Verweises, dass dieser in jedem Menschen abrufbar ist, da in jedem ein Künstler – eine kreative Kraft – geborgen ist. Als Revolutionär stellt er sich in die Pflicht, anderen dabei zu helfen, Revolutionäre zu werden, aber nicht notwendigerweise selbst Revolution zu machen. Das gelingt ihm nur dann, wenn er vorbildhaft mit der Veränderung bei sich selbst beginnt. Mit seinem Lebenskunstwerk und seinen Visionen zur sozialen Plastik ist bei Beuys dieser Wille durchgängig sichtbar geworden. Seine Botschaft würde heute denn auch lauten: Um die Globalisierung zu gestalten, muss das Individuum zuvor sich selbst gestalten.
Zwischen Sein und Scheinen
Die Kunst der Selbstdarstellung verwirklicht sich zuallererst im Gestus des Erscheinens. Dabei pendelt sie gelassen zwischen Sein und Schein. . Das Sein hat das Wesen zum Kern: was einer ist, bestimmt das Leben.
. Der Schein lebt vom Bild: wie einer erschei- nen will, prägt die Persönlichkeit.
Erfolgreiche Selbstdarstellung konstituiert ein «Zwischen-Reich» und etabliert dadurch eine dritte Position. Sie profitiert vom spontanen und unbefangenen Blick des Wesensmenschen auf andere. Vom Bildmenschen holt sie sich den Effekt der Erscheinung, also seinen «sprechendsten» Teil. Selbstdarstellung achtet vor allem auf den Blick, den sie im anderen erzeugt. Selbstdarsteller wollen scheinen, bis sie werden – womit ihr Geheimnis bezeichnet wäre. Jede Nachahmung ist echte Nachahmung und keine Kopie. Jede Darstellung ist echte Darstellung und kein Eklektizismus. Jede Maske ist echte Maske und keine Vortäuschung.
Was würde geschehen, wenn zwei ausgesprochene Selbstdarsteller, nennen wir sie Andy Warhol und Joseph Beuys, mit ihren Selbstinszenierungen aufeinander treffen. Hier Andy, wie er Joseph erscheinen will. Dort Joseph, wie er Andy erscheinen möchte. Sodann der Andy, wie er dem Joseph wirklich erscheint, also Josephs Bild von Andy, das keineswegs mit dem von Andy gewünschten übereinstimmen wird – und umgekehrt. Dazu noch Andy, wie er sich selbst, und Joseph, wie er sich selbst erscheint. Zu guter Letzt der leibliche Andy und der leibliche Joseph. Zwei lebende Wesen und sechs gespenstische Scheingestalten, die sich im Zusammentreffen der beiden noch mannigfaltig mischen. Welcher Ereignisraum bliebe hier für die Echtheit der Selbstdarstellung?
Es ist nicht wichtig, dass einer dem anderen all das verkündet, was ihm einfällt oder einer sich vor dem anderen erregend entäussert. Bedeutend ist, dass sie sich einander mitteilen, als das, was sie sind. Der Schein verliert an Wichtigkeit, wenn es gelingt, den anderen am eigenen Sein teilnehmen zu lassen. Wenn das eigene Leben nur noch auf die Bilder antwortet, die man in anderen evoziert, bleibt die Maske des Eindrucks bestimmend und ein selbstmächtiges Erscheinen findet keinen Ort. Doch der Spuk von Scheingestalten kann gebannt werden. Wenn Andy und Joseph nicht mehr durch Gespenster repräsentiert werden wollen und in beiden die Idee sich durchsetzt, als was sie selbst sind – und nicht als was sie vorgeben zu sein – erkannt und bestätigt zu werden. Die Kräfte einer Ästhetik des Daseins lassen den Schein hier wie dort zerrinnen und die Abgründe des Selbstseins bringen sich als performative Existenzsetzung ins Bild.
Jede Person ist dazu verurteilt sich selbst zu bestimmen, darzustellen und zu entwerfen. Jede Person ist dazu bestimmt, sich selbst zu sein, selbst zu denken und selbst zu handeln. Jede Äusserung ist Selbstbiografie. Jede Aktion ist Selbstperformanz. Jede Aufführung ist Selbsterfindung. Jede Assoziation ist Selbstverstrickung. Jeder Augenblick ist Selbstpräsenz. Jeder Auftritt ist Selbstpräsentation. Jede Aufnahme im Big-Brother-Container ist das Bild einer Selbstausstellung. Jede Anerkennung ist Vorbedingung für das Selbst. Jede Selbstdarstellung stellt grundlegende Fragen:
.Wer ist «ich selbst»? – fragt sich das Individuum. Antwort: Ich merke, dass ich «ich selbst» bin, aufgrund der eigenen Körpererfahrung (vom Säugling bis zum Sport), aufgrund des eigenen Beziehungsnetzes, aufgrund der eigenen Geschichte (woher jemand kommt) und aufgrund des eigenen Werkes (von den Fussabdrücken im Sand bis zur Malerei und Musik).
.Wie bin ich «ich selbst»? – fragt sich die Person. Der Prozess des Sich-selbst-Seins spielt sich ab zwischen Psyche und Soma, zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Individuation und Sozialisation, zwischen Emotion und Kognition, zwischen Geschichte und Aktualität etc. Dieser Prozess zwischen zwei Polen wird von einem Zentrum aus zusammengehalten: dem Selbst – auch als Vielheit von Selbsten, denn jedes Selbst ist ein Bündel von Selbsten. Dieser mittlere Weg zwischen entgegengesetzten Dingen steht für eine dritte Position.
.Wo gehöre «ich selbst» dazu? – in der Kultur. Die meisten Menschen haben ihre Wurzeln in mindestens zwei Kulturen, sie bilden mindestens eine bikulturelle Doppelidentität, wie die Italo-Schweizer, Afro-Amerikaner oder Islam-Deutschen. Was vor kurzem noch als Multi-, Inter- oder Transkulturalität bezeichnet wurde, heisst heute Hyperkulturalität. Hyperkultur versteht sich als konnektive Kultur des Und … Und … Und …
.Wo stehe «ich selbst» in der Welt? – in der Globalität. In einer Globalkultur gibt es zwischen dem Lokalen und Globalen eine Interdependenz, eine positive Abhängigkeit. In einer Globalkultur wird sich die Kultur von einem Reservoir der Abgrenzung und Identitätssicherung zu einem spielerischen Bereich der Flexibilisierung von Lebensformen verändern (siehe Kunstforum-Band 118/1992: «Weltkunst – Globalkultur»).
.Was ist ausserhalb meiner und der anderen Menschen Identität? – in der Transzendenz. Für viele Menschen ist das Gegenüber ausserhalb ihrer selbst Gott oder der göttliche Geist, für manche eine kosmische Kraft, für andere die Natur und für einige mag es ein Nichts sein. Der Schriftsteller Rüdiger Safranski schreibt: «Die Karriere des Menschen als Vernunftwesen beginnt mit dem Schritt des Aus-sich-Heraustretens, des Transzendierens.»
Ästhetisches Dasein ist nicht mit einer Methode zu erfassen, die alles und jedes einbezieht, sondern folgt einer eigenen Gesetzmässigkeit, die offen bleibt für das, was zur Ausweitung und Vertiefung des Subjekts beiträgt. Ästhetisches Dasein begreift das Subjekt, wie es der Naturwissenschaftler Lichtenberg vorschlägt, analog zum «es blitzt», als «es denkt» statt «ich denke». Sigmund Freud wird der Nachwelt den geheimnisvollen Satz «Wo Es war, soll Ich werden» überliefern, den er Georg Groddeck verdankt, der schreibt: «Es gibt gar kein Ich, es ist eine Lüge, eine Entstellung, wenn man sagt: ich denke, ich lebe. Es sollte heissen: es denkt, es lebt. Es, das grosse Geheimnis der Welt.» Gilles Deleuze setzt in den Siebzigerjahren an den Anfang seines Kultbuches «Anti-Ödipus» die Worte: «Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unerbrechungen. Es atmet, wärmt, isst. Es scheisst, es fickt. Das Es.» Der Versuch, das Ich und die Welt zu entzaubern, führt letztlich zur totalen Verzauberung.
Ästhetischer Existenzialismus
SELBST-DARSTELLUNG ALS EXISTENZIALIST. Die Sätze der Existenzialisten wirken wie Faustschläge auf den Tisch der Individuation: die Existenz geht der Essenz voraus, der Mensch ist zur Freiheit verurteilt, er muss sich täglich neu erfinden. Die Philosophie der Existenz situiert den Menschen in eine konkrete Geschichte, in ein konkretes Milieu, in ein konkretes Problemfeld. Der Existenzialist mischt sich dort ein, wo er eigentlich nichts verloren hat. Für ihn müssen sich die Parolen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit tatsächlich auch realisieren. Er agitiert, militiert und provoziert, in Hörsälen, auf der Strasse, vor Fabriktoren. Sein Engagement zeigt Züge von Totalität. Er spielt immer mit ganzem Einsatz – ohne intellektuelle Hintertür und doppelten Boden. Er ist der Mensch in der Revolte. Die Freiheit ist für ihn nicht bloss ein philosophischer Begriff, sondern gelebte Erfahrung, wie auch ein Grundimpuls des Schreibens. Sie ist weniger ein (erreichbares) Ziel, sondern Horizont und Fluchtpunkt, gleichsam unkartographierte Wege zur Freiheit des Selbst. Die Existenz ist keine Notwendigkeit, sie meint: da sein. Jean-Paul Sartres Gesicht gehört wie das von Albert Einstein, Andy Warhol oder Marilyn Monroe zu einer Physiognomie des 20. Jahrhunderts.
Die Kunst der Selbstdarstellung ist Praxis und Erfahrung, im Idealfall sogar ein Akt der Rebellion. Wer die Kunst der Selbstdarstellung praktiziert, spannt den Bogen zwischen:
Ich und Es
Pathos und Poesie,
Konstruktion und Authentizität,
Konformität und ästhetischem Dasein,
Angepasstheit und Abversion
Exzentrik und Existenzialismus.
Welches Nervenkostüm benötigt ein Mensch, um in diesen Spannungsfeldern auf Dauer bestehen zu können. Die Sätze der Existenzialisten wirken wie Faustschläge auf den Tisch der Individuation: die Existenz geht der Essenz voraus, der Mensch ist zur Freiheit verurteilt, er muss sich täglich neu erfinden. Die Philosophie der Existenz situiert den Menschen in eine konkrete Geschichte, in ein konkretes Milieu, in ein konkretes Problemfeld. Der Existenzialist mischt sich ein, dort, wo er eigentlich nichts verloren hat. Die Parolen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sollten sich nach Möglichkeit auch realisieren. Er agitiert, militiert und provoziert, in Hörsälen, auf der Strasse, vor Fabriktoren. Sein Engagement hat Züge von Totalität. Er spielt mit ganzem Einsatz – ohne intellektuelle Hintertür und doppelten Boden. Er ist der Mensch in der Revolte. Als Moralist kann er den Zustand der Welt nicht akzeptieren. Doch in der Reihe der ihm zugewiesenen Charaktere darf der des Lebenskünstlers nicht fehlen. Sein Ehrgeiz kommt von innen und entspannt sich ins Komödiantische und in die Bohème. Das Subjekt ist für ihn nicht abgeschlossen, sondern entwirft sich fortlaufend selbst.
Paradigmatisch die Definition des Blicks: der andere wird durch meine Wahrnehmung ebenfalls zum Objekt. Da dieses Verhältnis aber ein gegenseitiges ist, entsteht ein fortwährender, aber entscheidungsloser Kampf. Der Existenzialist entdeckt die ästhetische Lust am Dasein in der Musik (Jazz), in der Literatur (Baudelaire), auf Reisen (vor allem in Italien) und in der Kunst (beim Renaissance-Meister Tintoretto, dem Gegenspieler Tizians). Die Freiheit ist für ihn nicht bloss ein philosophischer Begriff, sondern gelebte Erfahrung, wie auch ein Grundimpuls des Schreibens. Sie ist weniger ein (erreichbares) Ziel, sondern Horizont und Fluchtpunkt, gleichsam der unkartographierte Weg zur Freiheit des Selbst. Die Existenz ist keine Notwendigkeit, sie meint: da sein. Für den Existentialisten ist es wichtig, dass er getan hat, was zu tun war. Gut oder schlecht, darauf kommt es ihm nicht an. Hauptsache, er hat es versucht. Hier kommt der Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre (1905-1980) zu Gestalt, dessen 100. Geburtstag letztes Jahr gefeiert wurde. Sartres Gesicht gehört wie das von Albert Einstein, Andy Warhol oder Marilyn Monroe zu einer Physiognomie des 20. Jahrhunderts. (Abb. 2)
Auffallend ist die unterschiedliche Rezeption von Sartre in Frankreichs Medien und in denen weltweit. Während in der französischen Presse Klischees wiederholt wurden und Sartre als irrendes Vorbild, als überholter Denker oder Hochstapler bezeichnet wurde, stimmten die Reaktionen ausserhalb Frankreichs darin überein, dass in der Ideengeschichte Sartres sich ein Zugriff auf das Verstehen von Gegenwart erschliesst. Bereits in den Sechzigerjahren beschrieb die Zeitschrift «L’Art» die Stimmung in Paris:
«Man spricht nicht mehr vom Bewusstsein oder vom Subjekt,
sondern von Regeln, von Codes, von Systemen;
man sagt nicht mehr, dass der Mensch Sinn macht,
sondern dass der Sinn dem Menschen zufällt;
man ist nicht mehr Existenzialist,
sondern Strukturalist.»
Der Strukturalismus propagierte den Primat der Struktur vor dem Subjekt. Damit wurde der Mensch nicht als ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Subjekt betrachtet, sondern im wörtlichen Sinn als ein «sub-jectum», ein den bestehenden Verhältnissen unterworfenes Wesen. Die Dominanz des existenzialistischen Weltbildes fand ihr Ende. Sartre, die moralische Instanz dieser Philosophie, wurde als Denker des 19. Jahrhundert bezeichnet, der ein veraltetes marxistisches Geschichts- und Menschenbild künstlich am Leben zu erhalten trachtete.
Und was blieb von Sartre und vom Existenzialismus? Da ist zumindest das Lebenskluge ohne Verfalldatum: sind die Umstände auch noch so bedrückend und beengend – entscheidend ist, wie der Mensch damit verfährt. Es ist die Philosophie der Existenz, die den Menschen als Projekt entwirft und ihn dadurch in jene Handlungsräume stellt, die ihn dazu befähigen, sich gegen Unrecht und Unterdrückung aufzulehnen. Der Begriff des Selbst bleibt keine Floskel der Innerlichkeit, sondern bewegt sich auf die Welt zu. Was wir schätzend erkennen, ist Sartres konsequenter und erbarmungsloser Blick auf das eigene Ich. Descartes’ Satz «Ich denke, also bin ich» paraphrasierend, heisst es bei ihm: «Schreibend existierte ich.» Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die eigene Lebensform.
Für den Künstler-Selbstdarsteller bedeutet das, er beugt sich malend und schreibend, spielend und darstellend über die Welt und das eigene Selbst, im Versuch, beides zu begreifen. Im Akt des Agierens erfährt er die Intensität von Präsenz. Ohne dieses begreifende Handeln oder handelnde Begreifen bliebe das Leben für ihn etwas Amorphes, Ungestaltes, Bedrohliches. Selbstdarstellung lebt vom emphatischen Augenblick des unmittelbaren Erlebens. Sartre ist einer der wenigen linken Philosophen, der die Frage nach dem sich engagierenden Subjekt in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt hat.
Während der engagierte Autor bisher eher als Sonderfall galt, kehrt Sartre die Sache um und macht den Akt der Selbstwahl, in dem das Engagement gründet, zur Bedingung authentischen Lebens. Auf den subjektiven Akt der Selbstwahl abhebend, rechtfertigt er das Künstler-Individuum durch seine Haltung, nicht durch den Inhalt seines Engagements. Somit haben auch nationalistische Selbstdarsteller wie Gabriele D’Annunzio oder Yukio Mishima alle Charakteristika der Wahl. Gegen den Hang zur Selbstdarstellung hat es die postmoderne Subjektkritik schwer, denn in der Selbstdarstellung bestimmt sich das Subjekt als Protagonist einer ununterbrochenen Fluchtbewegung in die Zukunft. Das hierzu nötige Selbstbewusstsein ist für Sartre nicht Ergebnis eines Aneignungsprozesses, sondern Folge einer nach aussen gerichteten Bewegung.
Performative Existenzsetzung
Die Brüche, Umbrüche und Widersprüche sind heute ganz anderer Art als zu Sartres Zeit. Die Erinnerung an Engagement mag als narzisstisch, die an Kritik als dubios und jene an Revolte als naiv wirken. Trotz allem bleiben dieselben Fragen:
Was ist ein Modell für Engagement?
Welche Vorstellung des Sozialen ist zu verteidigen?
Welche Kritik soll geübt werden?
Ist Revolte machbar?
Wofür lohnt es sich zu kämpfen?
Gerade ein Moment der Unwissenheit ermöglicht eine Haltung der Moral – verstanden als Akt des Tuns und als Form des Lebens. Wer Selbstdarstellung als Lebensform praktiziert, hat einen ästhetischen Existenzialismus zur Grundlage, den er sich selbst gibt und der er selbst ist. Wer die Jetztzeit nicht versäumen will, muss sich zeigen, verwundbar machen und mitspielen. Selbst wenn in einer Situation alles festzustehen scheint, bleibt das Selbst darin oft unbestimmt – offen für Selbstbestimmung.
Wenn der Existenzialismus das Sprechen über Freiheit, Individualität und Subjektivität des Einzelnen zum Thema hat, zielt der ästhetische Existenzialismus der Selbstdarsteller auf «das Sichsetzen einer Handlung jenseits und unabhängig von Intentionalität und deren Erfüllung», wie der Kulturphilosoph Dieter Mersch in seinem herausragenden Vortragstext «Life-Acts» ausführt (veröffentlicht in Lischka/Weibel: Act! Handlungsformen in Kunst und Politik, Wabern/Bern 2004). Wenn Mersch die Kunst des Performativen als An-Archie des Praktischen bezeichnet und betont, dass es dabei als erstes um den «Setzungscharakter» gehe, dann beschreibt er zugleich Aspekte der Kunst der Selbstdarstellung. In der Selbstdarstellung bilden das Sichzeigen und das Erscheinen genuin ästhetische Augenblicke. Beim Selbstdarstellungskünstler geht es vor allem um die «Setzung einer Existenz», um «Existenzsetzung».
Die performative Existenzsetzung beinhaltet nicht nur eine Existenz, sondern ebenso alle weiteren Existenzen dazwischen, die unbewussten, verborgenen und gesichtslosen, von denen man nichts ahnt. Für den Handlungsvollzug ist nicht so sehr die Setzung-«als», sondern vielmehr die Setzung-«dass» entscheidend. Diese Aussage besagt, dass das Leben des Darstellers durch etwas bestimmt wird, noch bevor dieses Leben versucht, etwas zum Ausdruck zu bringen. In der Selbstdarstellung zählt somit nicht so sehr, als was etwas sich zeigt, sondern dass etwas sich zeigt. Die Selbstdarstellung ist das Ereignis einer Setzung in mehrfachem Sinne. Setzung ist:
1. Existenz-Setzung zuallererst: das meint den Vorrang des Seins, der Existenz selbst vor dem Wesen. Das meint die Verschiebung vom «Was geschieht», von einer Bestimmung zum «Dass», zur Unbestimmtheit der Existenz selbst: ex-istere, das Herausstehende, das wir nicht gemacht haben, das sich unserer Kontrolle entzieht, das sich selbst genügt: das Unverfügbare. (Vgl. Dieter Mersch: Tyche und Kairos, in: Kunstforum-Band 152/2000)
2. Ein-Setzung zweitens, nämlich als der Augenblick des Einsatzes, der den Akt bzw. die Handlung auf der Szene freisetzt.
3. Ent-Setzung drittens, weil der Akt die Szene verändert: Erwartungen werden plötzlich umgestürzt.
4. Aus-Setzung viertens: jede Handlung stellt sich selber aus, führt sich vor, zeigt sich.
«In diesem Sichzeigen ist der Akt nicht nur in die Welt gesetzt und zur Erscheinung gebracht», schreibt Mersch, «er gibt sich ebenfalls in dem Sinne preis, als dass sich der Handelnde in ihr selbst preisgibt und seine Handlungen gleichermassen körperlich präsent macht, wie er durch sie angreifbar wird. Der Körper handelt, er spricht im Akt mit.» Im Mittelpunkt der Selbstdarstellung als performative Kunst steht «das Erscheinenlassen des Ereignens unverfügbarer Präsenz im Sinne von Reauratisierungen des Ästhetischen durch Setzung von Augenblicken» (Mersch).
Wie kein anderer zuvor liefert Mersch programmatische Sätze für eine Kunst der Selbstdarstellung, wenn er davon spricht, dass in der performativen Existentsetzung statt Sinn und Symbole vielmehr Prozesse und Ereignisräume begangen, erkundet und erlebt werden. Ein Paradigmenwechsel erfasst sowohl die ästhetische Erfahrung als auch das Selbstverständnis von Kunst: entscheidend ist nicht die Aktion im einzelnen, sondern deren Wirkung, sei es durch Auslösung störender Impulse, Stiftung kontaminierender Rituale, Vervielfältigung von Widerständigkeiten oder Dekontextualisierung politischer Macht.
Bei einer performativen Existenzsetzung von Selbstdarstellung geht es in erster Linie um den Aktcharakter selbst, um das Erscheinenlassen der Prozessualität von Handlungen und um ihre gewissenhafte Ausführung und Selbstausstellung.
Jede Selbstausstellung hat mit Event und Entertainment zu tun, jedoch auch mit Ernsthaftigkeit und Ethik. Wenn die Kunst in den sozialen und öffentlichen Raum übertritt, handelt es sich um eine «Ethik der Praxis», welche die Betrachter zu Teilnehmern und Kollaborateuren macht. Eine «Ästhetik der Performativen» arbeitet, so Mersch, «auf der Schwelle, operiert mit Überraschungseffekten, mit Paradoxa und Inversionen, die das Moment des Performativen in dem Masse erfahrbar machen, wie sie die Handlung destabilisieren und den Akt als Akt prekär erscheinen lassen». Die Präsenz eines Performance-Künstlers konzentriert sich darauf, ein prekäres Gleichgewicht zu finden. Der Performer drückt nichts aus und stellt nichts vor, sondern speist sich direkt aus der Lebensexistenz des Darstellers, so dass es schwieriger ist, ein Performer zu sein als ein Selbstdarsteller. (Abb. 3)
Die Attitüden des Dandys
Früher galt der Dandy auf seine Weise als Künstler, der seine Kunst nicht temporär ausübte, sondern sein Leben selbst als Kunstwerk begriff. Er gefiel sich als Person, wie andere durch ihre Werke gefallen. Dandys verwandelten Salons und Klubs, Cafés und Boulevards zu Bühnen ihrer Selbstdarstellungen. Ihr extravagantes Auftreten war Gespräch. Sie manikürten ihre Fingernägel, trugen bestickte Handschuhe und seidene Strümpfe und beschrieben rosa Briefpapier mit Goldrand. Als dekadente Modegecken waren sie Anregung für die zeitgenössische Karikatur. Attribute des Dandys waren Selbstkult, Ironie, Impertinenz, Verhüllung und Kälte der Empfindungen. Der Dandy war nicht bloss Müssiggänger und Spielernatur, er war mehr als nur ein Meister der Kleidungskunst und der Konversation. Er war eine Spielart des distinguierten Menschen, der sein Leben in all seinen Facetten einem ästhetischen Stil unterwarf. Ernst Jünger stattete ihn mit soldatisch-kalter Désinvolture aus, Albert Camus machte ihn zum «Mensch in der Revolte», Susan Sontag imprägnierte ihn mit der Ironie der Camp-Kultur.
Heute hat die Kommerzialisierung des gesellschaftlichen Lebens den Dandy, der als konservativer Rebell die Massen- und Medienkultur verachtete, ins Abseits gedrängt. Die vom Dandy verkörperte Idee stillvoller Selbstdarstellung, hat ihre Anziehungskraft jedoch nicht verloren. Geblieben ist die Faszination vom Dandy als heroischer Aussenseiter, als Protestfigur gegen bürgerliche Nivellierung und Moral, gegen die Ideologie des Nützlichen und Zweckhaften. Nicht zufällig wird Rudi Dutschke als der «idealisierte Rebell» und Andreas Baader als der «Dandy des Bösen» gehandelt.
Unsere Zeit wird von einer Welle des Narzissmus und einem Kult der Selbstdarstellung heimgesucht. Dieses Bedürfnis nach Auszeichnung und Abhebung vom Durchschnittlichen und Gleichförmigen gelingt einzig, wenn nicht die Show, sondern die Qualität des ästhetischen Daseins im Vordergrund steht. Die Reality-Shows am Fernsehschirm treiben kein Spiel mit der Wirklichkeit, sondern geben vielmehr die Wirklichkeit als Spiel aus. Dabei geht es um die Angleichung der Wirklichkeit an die Bedürfnisse des Egos, was letztlich nur Kunstprodukte und Opportunisten hervorbringt. Die Kunst der Selbstinszenierung verlangt nach einem Verstricktsein mit dem Real Life. Im Idealfall formt sich die Identität des Künstler-Selbstdarstellers auf paradoxe Art: frei von innen und im Dialog mit dem Repräsentationssystem, in dessen Gegnerschaft er sich fühlt.
Die Schattenseite einer Ästhetik der Inszenierung zeigt weniger eine Kunst der Selbstdarstellung als vielmehr das Ringen um Anerkennung, selbst um den Preis der Selbstentblössung (Abb. 4). Da ist der spielerische Umgang des Dandys mit althergebrachten Verhaltensformen zu loben, der vor Nonkonformismus und Regelverletzung nicht zurückschreckt, wenn sie ihm nur Bewunderung und Respekt einbringen. Selbstdarsteller sollten sich von der Dandy-Devise leiten lassen, niemals so zu handeln, wie andere es von ihnen erwarten. Selbstdarsteller sollten sich dandyhaft verstehen …
• auf das Impromptu als das Vor-aller-Augen- Sein,
• auf die Improvisation als Reaktions- und In teraktionsfähigkeit,
• auf das Imprévu als das Unvorhergesehene, Unkalkulierte und Unerklärliche.
Selbstdarsteller lassen sich nicht an Begriffe anpassen, ohne dass das Wesentliche dabei verloren geht: die Aura der Performance.
Die Kultur des Selbst
SELBST-AUSSTELLUNG ALS HUNGERKÜNSTLER. Jede Selbstausstellung hat mit Event und Entertainment zu tun, jedoch auch mit Ernst und Ethik. Wenn die Kunst in den sozialen und öffentlichen Raum übertritt, handelt es sich um eine «Ethik der Praxis», welche die Betrachter zu Teilnehmern und Kollaborateuren macht. Dem 1973 geborenen New Yorker Magier David Blaine geht es bei seinen Ausdauer-Performances um Selbsterfahrung und um die Suche nach Wahrheiten. In London hängt ab 5. September 2003 nahe der Tower Bridge eine gläserne Armeleutekammer. Darin vollzieht Blaine einen 44-tägigen öffentlichen Akt als Hungerkünstler, ein rund um die Uhr dauerndes Spektakel aus seiner blossen Existenz. In «völliger Isolation», aber für jedermann sichtbar, vollbringt er – ohne Nahrungsaufnahme, nur am Wassertropf, vor laufenden Kameras – einen Akt menschlicher Selbstbehauptung im Angesicht des Todes. Blaine glaubt, dass ein Leben ohne Nahrung und menschlichen Kontakt zum «reinsten möglichen Zustand führt», wie er verlauten liess. Keine Botschaft, kein politisches Anliegen, reine Kunst, Kunst, die nur sich selbst und den Performer zelebriert. Blaines Aktion «Above the Below» ist ein grosser Publikumserfolg, der eine viertel Million Schaulustige anlockt. Darunter sind Prominente wie Paul McCartney, Pamela Anderson und Naomi Campbell. Aber auch Quälgeister, die seine stumme Selbst-Ausstellung mit Eiern, Golfbällen und Farbbomben bewerfen. Nach Beendigung seiner «Freak Show» wurde Blaine im Krankenhaus wieder aufgepäppelt. Sex mit seiner deutschen Freundin, dem Model Manon von Gerkan, ist tabu – davon könnte er einen Herzinfarkt bekommen. Blaine leidet nach eigenen Angaben unter Atemproblemen, starkem Herzklopfen, Kopf- und Rückenschmerzen, Halluzinationen, Sehstörungen und Hautreizungen. Handelt es sich bei diesem Fasten um Unterhaltung mit Moral? Nach einem Bericht des «Independent on Sunday» sind seit Beginn des Stunts mehr als eine Million Menschen an den Folgen von Unterernährung gestorben. Für seine Hungeraktion soll Blaine sich durch die Lektüre des Ausschwitz-Überlebenden Primo Levi und des IRA-Terroristen Bobby Sands, der 1981 im berüchtigten nordirischen Maze-Gefängnis an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben war, vorbereitet haben. Ein Kritiker meinte scharf: «Wenn er es tun würde, um etwa auf die Misere der politischen Gefangenen in Burma hinzuweisen – aber so ist es nur eine Übung in Vergrösserung des eigenen Ichs.»
Das ästhetische Selbst ereignet sich in dem komplexen Ineinanderwirken von Leben, Privatem, Innerem, Eigenem, Subjektivem, dem Ich und dem Räderwerk des Alltags einerseits und der Kunst, der Öffentlichkeit, dem Äusseren, Fremden, Objektiven, dem Wir und der Gesellschaft des Spektakels andererseits. In der Selbstdarstellung löst sich das Denken in Oppositionen auf. Die Kultur des Selbst extrahiert aus der Verknüpfung von privaten Empfindungen und öffentlichen Diskursen etwas Neues, Drittes. Das kann zu Wahrnehmungen des Selbst führen, die unter herkömmlichen Bedingungen ausbleiben. Das Selbst und die Kultur folgen Regeln und Gesetzen. Sie haben ihre eigenen Erscheinungsformen und Forschungsmethoden, mit unterschiedlicher Wirkungsmacht und politischer Relevanz. Dennoch ist die Kultur ein wesentliches Ferment für die Selbstwerdung. Werden das Selbst und die Kultur gleichzeitig und gleichwertig wahrnehmbar, begründen sie als ein neues Ganzes die Selbstkultur.
Selbstkultur erforscht, ob beim Aktivisten, Denker, Künstler, Schriftsteller etc., das Leben in ihm und um ihn. Sie konstituiert einen permanenten Prozess zwischen einander widersprechenden, sich gegenseitig ausschliessenden und gleichzeitig einander vervollständigenden Phänomenen.
Alle Kunst ist dialogisch. Der Akteur/Artist/Produzent findet sich zwischen dem Wunsch, ein gelungenes Kunstwerk herzustellen (ohne Rücksicht auf die Rezeption) und dem Bedürfnis nach Akzeptanz beziehungsweise Kommunikation im Kulturbetrieb.
Selbst-entblössung ALS «PLAYBOY»-PLAYMATE. Unsere Zeit wird von einer Welle des Narzissmus und einem Kult der Selbstdarstellung heimgesucht. Dieses Bedürfnis nach Auszeichnung und Abhebung vom Durchschnittlichen und Gleichförmigen gelingt einzig, wenn nicht die Show, sondern die Qualität des ästhetischen Daseins im Vordergrund steht. Die Schattenseite einer Ästhetik der Inszenierung zeigt weniger eine Kunst der Selbstdarstellung als vielmehr das Ringen um Anerkennung, selbst um den Preis der Selbstentblössung. Jeff Koons schreibt: «Immer wenn ich an Pam denke, fällt mir der Baseball mit ihrer Unterschrift ein, den ich bei eBay gesehen habe. Dieser Baseball war so verführerisch wie der Apfel von Eva im Paradies.» Pamela Anderson ist, wie die Verlagswerbung lauthals verkündet, die unbestrittene Erotik-Queen unserer Tage. Sie ist «Playboy»-Playmate, Star der weltweiten Kultserie «Baywatch», Covergirl sämtlicher Lifestyle-Magazine und versucht sich nun in die Tradition blonder medienwirksamer Göttinnen einzureihen – von Jean Harlow über Marilyn Monroe bis Madonna. Ob ihr dies gelingt, steht in den Sternen.
• Während der Ego-Player zum Gezierten und Theatralischen neigt, seine Rolle spielt wie ein Schauspieler, der krampfhaft bemüht ist, so zu tun, als spiele er nicht,
• erschafft sich der Selbst-Performer aus sich selbst, indem seine Inszenierung im Verlauf der Performance immer anschaulicher Gestalt annimmt.
• Während der eine in den Exzessen der Eitelkeit schwelgt (Schauspieler sind Eitelkeitssüchtige),
• besticht der andere durch Eigensinn als Attitüde (für ihn ist Eitelkeit eine unvermeidliche Sünde).
• Während der Schauspieler zu einem Automaten verkommt, der im Rampenlicht immer ein Anderer zu sein hat und das eigene Ich eine Leerstelle bleibt,
• ist der Selbstdarsteller eigener Akteur seiner «Statements».
Künstler, so das hartnäckige Klischee, bewegen sich in Innenwelten, in hermetisch abgeschlossenen Räumen. In ihnen lauert die Selbstbegegnung, das eigene Ich als Bollwerk und die Neurose nach Selbstverwirklichung. Gäste stören die Einsamkeit im kleinen Reich. Eindringlinge könnten die Selbsttäuschungen sowie den Rausch der Selbstpräsenz hinterfragen. Das scheinbar perfekte Leben der Künstler entblösst sich in der Aussensicht als abstossend. Dass grosse Kunst einzig Einsamkeit, Entbehrung und Leiden zur Voraussetzung hat, ist eine überdrehte Vorstellung. In der Selbstkultur bleibt das ästhetische Selbst frei vom Zwang, sich abzuschotten. Es setzt beharrlich auf das Verbindende.
Die Selbstkultur lebt von der Fähigkeit, radikal zu individualisieren. Wer in diesem Kontext auf Dinge, Menschen oder Kunstwerke trifft, ordnet nicht zu oder ein, schlägt über keinen Leisten der Konvention oder Norm, sondern lässt die Einzigartigkeit und den Selbstsinn zu. In der Selbstkultur ist der Hammer «einfach Hammer», der Freund «einfach Walter», das Bild im Museum «einfach das Bild» – unabhängig davon, was «im» Bild ist. Die Selbstkultur auf eine Gesellschaftsform transformiert, lässt zu, dass jeder als derjenige identifiziert wird, der er ist. Das entbindet niemanden vor der eigenen Selbstfindung zwischen:
Leidenschaft und Anpassung,
Autonomie und Abhängigkeit,
der Freiheit der Strasse und der Karriere,
Existenz und Establishment,
Autodidakt und Akademie,
Engagement und Entfremdung.
Die Selbstkultur bietet dem ästhetischen Selbst die Möglichkeit der Wahl. Das erinnert an die romantische Auffassung des «reinen Ichs», das aus der Wirklichkeit ein Spielfeld grenzenloser Möglichkeiten macht. Das erinnert an Pessoa und Musil, an Sartre und Beuys. Das erinnert im Weiteren an den ästhetischen Menschen, der das Leben als permanentes Experiment führt. Das erinnert aber auch an einen politischen Aktivismus, der sich nicht durch ein Programm kennzeichnet, sondern getrieben ist von der Performativität nach neuer Lebensintensität. Das erinnert ebenso an die dadaistischen und situationistischen Kunstrevolten. Der eigentliche Zweck der politischen Rebellion liegt darin, Subjektivität zu zünden und ein Maskenfest der Verweigerung zu veranstalten. Die Kunst und so auch die Künste des Selbst waren, sind und bleiben für immer klar und deutlich eine Frage der Individualität. Kunst verfolgt ein Konzept dieser Individualität und der eigenen Selbstgewissheit. Kunst ereignet sich in der Abwehr kollektiver Identitätsmodelle (Extremismus, Nationalismus, Terrorismus, Fundamentalismus, Dogmatismus, Totalitarismus). Die Selbstkultur liefert den «Faden der Erzählung» zum intellektuellen Deserteur und ästhetischen Dissidenten. Wir erleben einen Akteur, der zwischen der Hingabe an eine Idee und dem Verlangen nach Authentizität hin- und hergerissen ist. Seine Revolte ist ästhetischer Art. Seine Haltung formuliert er mit: «Ich bin nicht dagegen oder anders – ich bin ich selbst.» Im Reich der Konformitäten kann jede Individualität und jedes ästhetische Dasein ein Vergehen sein. Dissidenz ist somit ein Synonym für Kunst.