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Relektüren · von Rainer Metzger · S. 314 - 315
Relektüren ,

Relektüren
Folge 78

Rainer Metzger

Dieser Ismus ist wahrscheinlich der unwiderstehlichste von allen. Im Surrealismus kam zusammen, was die Erfolgsfaktoren einer künstlerischen Bewegung ausmacht: eine deutliche Programmatik in der Umwidmung der Psychoanalyse auf die Kunst; eine ideologische Stoßrichtung im Engagement für die klassenlose, in Herzen und Hirnen befreite Gesellschaft; ein Manifest, geschrieben im Jahr 1924, das die Gemeinsamkeiten definierte, und eine im gleichen Jahr gegründete Zeitschrift mit dem Titel La revolution surréaliste, die sie in die Welt trug; eine gediegene Gruppenidentität, die die Mitglieder auf Kurs hielt; darüber hinaus schließlich die eine zentrale Figur des Organisators und Koordinators, des Einflüsterers und Einpeitschers. André Breton war das offene Betriebsgeheimnis des Surrealismus, er zensierte und zensurierte und dirigierte seine avantgardistische Kadertruppe mit seinen speziellen Methoden. Diese Methoden glichen durchaus denen, wie sie im gelobten Land der Bewegung, in der Sowjetunion, selbst Praxis wurden, nämlich stalinistischen.

Bereits 1921, einige Zeit also bevor er die Gruppe auf den Begriff und damit in die Kunstgeschichte gebracht hatte, ließ Breton einen Fragebogen kursieren, der später den prägnanten Namen „Liquidationsliste“ erhalten wird. Die Freunde, Weggefährten und Gesinnungsgenossen sollten dabei ihrer Einschätzung von lebenden oder toten und fast ausschließlich männlichen Personen des Kulturgeschehens Ausdruck verleihen, indem sie ihnen zwischen −25 und +20 Punkte gaben. Aus den Voten wurde ein Durchschnitt errechnet, und so ergab sich die Reihenfolge der Heroen und Versager. Letzter in der Liste wurde ein heute eher unbekannter Symbolist namens Henri de Regnier mit −22,90 Durchschnittspunkten, aber auch Voltaire mit −15,27 oder Emile Zola mit −13,68 kamen schlecht weg….

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