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Essay · von Hermann Pfütze · S. 266 - 269
Essay , 2003

HERMANN PFÜTZE
IDENTITÄTEN

1.

Identität ist zunächst ein kollektives, öffentliches Ich-Gefühl: wir Sachsen, wir Künstler, wir Globalisierungskritiker; – mithin ein Schutz, hinter dem das persönliche Ich sich verbergen kann. Das Gemeinsame zählt, nicht das Trennende. Ich suche Zuflucht unter meinesgleichen und bin in der Hauptsache wie sie. Mit diesem Gemeinsamen identifizieren wir uns und bekennen uns dazu, während die individuellen Unterschiede nebensächlich sind. Der Vorteil ist: Ich bin nicht allein, wir sind viele und gehören zusammen. Die gemeinsame Identität schützt mich, ich gehöre dazu. Identität ist also Bekenntnis der Zugehörigkeit. Kollektive, homogene Identitäten dienen immer dem Zweck, nicht nur Unterschiede, etwa zwischen ‘uns hier und jenen dort’ zu bestätigen, sondern zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss scharf zu trennen. Wir und jene anderen gehören nicht zusammen. Deswegen Bekenntnis – zu einem Glauben, zur Kunst, zu einer gemeinsamen Sache, zu einem Idol. Bei Identität darf es keine halben Sachen geben, keine Zweifel und keinen Erkenntnisvorbehalt.

Erkenntnis und Kritik führen nämlich weg von der Identität, stellen sie in Frage. Erkenntnisgewinn führt zu Identitätskrisen, während Glaubensgewinn die Identifikation mit der Sache stärkt. So funktionieren jedenfalls Kollektiv-Identitäten.

Sobald ich jedoch das Kollektivgehege verlasse, als Sachse auf Reisen, als Künstler unter Banausen, oder als Globalisierungskritiker an der Börse, werde ich erst recht als das identifiziert, was ich bin. Schutzlos bin ich mit meiner Identität exponiert. Ich bin, was alle anderen nicht sind, und kann nur noch mit mir identisch sein. Am liebsten würde ich jedoch wie sie sein und mein Ich verstecken, verkleiden oder verneinen wie Rimbaud:

“Ich – das ist ein…


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