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Relektüren · von Rainer Metzger · S. 352 - 353
Relektüren , 2017

Relektüren

Rainer Metzger Folge 39

Bücher haben ihre Schicksale. Diese uralte Weisheit, die auch diesen Relektüren ihre Berechtigung gibt, gilt für kaum ein Buch des letzten knappen Vierteljahrhunderts deutlicher als für Giorgio Agambens „Homo Sacer“. Seine Analyse eines „nackten Lebens“, in dem Walter Benjamins Wort vom „bloßen Leben“ aus den zwanziger Jahren Widerhall fand, erschien 1995. „Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes“, lautet sein Schlüsselsatz (S. 190). Sehr deutlich machte das Werk seinen Zuschnitt auf die damals aktuellen Zustände in Bosnien mit Massenvergewaltigungen und ethnischen Säuberungen. So gesehen war es eine im Jargon der Verwegenheit auf Gegenwartsdiagnose zielende politische Schrift.

Das „nackte Leben“, „la vita nuda“, leitet sich aus der römischen Antike ab. Hier war der „Homo Sacer“, der heilige Mensch, der diesem Leben ausgesetzt ist, einer der getötet werden konnte, ohne dass dies als Mord galt. Agamben bemüht sich, den Begriff und was er meint aus der Sphäre des Kriminellen herauszuholen und zu versichern, dass die gesamte Moderne daraus zu verstehen sei. Das „nackte Leben“ ist geprägt von purer Körperlichkeit, es ist nichts als Leib, der agiert und reagiert, nutzt und benutzt wird. Die Massendemokratie von heute ist beherrscht von seinen Instinkten und Idiosynkrasien, von Verschmelzungswahn und Erlebnisrausch. Notgedrungen ist jede Gesellschaftlichkeit heute – Agamben übernimmt hier ein Wort von Michel Foucault – Biopolitik. Keine Institutionen und keine Staatlichkeit können das Reiz-Reaktions-Schema mehr hemmen.

Dass das so gekommen ist, hat man schon vor Jahrhunderten erkennen können, in der Erklärung der Menschenrechte durch die Französische Revolution etwa, die…

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