SVEN DRÜHL
Düstere Legenden
VOM MYTHOS DES SUIZIDS UND DER AUTOAMPUTATION IN DER AKTIONSKUNST
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Versuche der Grenzüberschreitung im Bereich der bildenden Kunst. Dada, Fluxus, Happening Body- und Performance-Art sind die Schlagworte im Kontext dessen, was seine kompromissloseste und konsequenteste Ausarbeitung in der Aktionskunst der späten 60er und frühen 70er Jahre haben sollte. Die Auftritte der Wiener Aktionisten Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler beispielsweise regten seit dem Beginn ihrer öffentlichen Inszenierung zur Mythenbildung an. Dabei waren ihre Aktionen trotz der spektakulären Provokationen und Tabuverletzungen in einer Art dionysischen Katharsis, einer Überwindung tradierter Werkbegriffe und einer Form von Kreativität freisetzenden Selbst- und Grenzerfahrung begründet und zielten keineswegs auf den rituellen Suizid, wie einige Autoren gerne unterstellten.
Auffällig ist, dass sich einige Fehldeutungen und Unwahrheiten hartnäckig in der kunstwissenschaftlichen Literatur erhalten haben und durch zahlreiche Autoren von Veröffentlichung zu Veröffentlichung weitertransportiert wurden, obwohl andere bereits die Falschmeldungen, Fehleinschätzungen, Unterstellungen und groben Missinterpretationen als solche aufdeckten. Diese medialen Verstrickungen aufzuzeigen und die damit einhergehende Legendenbildung bis hin zum immer wieder auftauchenden Mythos von Künstlern, die sich – je nach überlieferter Version – im Rahmen einer Kunstaktion selbst töteten, von einem Roboter enthaupten ließen oder infolge von Selbstverstümmelungen umkamen, nachzuzeichnen, ist das Anliegen des vorliegenden Textes.
Legendenbildung Teil 1
Höhepunkt des tatsächlichen, unbestreitbar real vollzogenen, bis zur Selbstaufgabe reichenden Einsatzes des eigenen Körpers ist wohl die Selbstverletzungsaktion “Zerreißprobe” von Günter Brus. Vor Publikum führte er am 19.6.1970 im Münchner Aktionsraum I seine selbstzerstörerischen Handlungen aus. Diese von Brus…