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Titel: Choreografie der Gewalt · von Iris Dressler · S. 100 - 108
Titel: Choreografie der Gewalt , 2000

IRIS DRESSLER
Vergiss nicht zu sterben!

Turners Gemälde wurden gestohlen. Sie sind nicht mehr im Heim. Dort hingen sie. Gerade eben noch. Jetzt vagabundieren sie.”1 So die Bildunterzeile von Karl-Josef Pazzini zu einer Abbildung, auf der zwei Kameramänner eine leere Museumswand filmen und zwar genau dort, wo sie eben noch hingen. Beweisaufnahme und Exposition einer Abwesenheit, aber wovon?

Die beiden Kameramänner filmen eine Ungeheuerlichkeit, und die ist hier nicht der Diebstahl selbst, sondern der leere Fleck: Er weist darauf hin, dass Museumsinventar, also etwas, das es im kollektiven Auftrag aufzuheben gilt, nicht mehr an seinem ihm zugewiesenen Ort weilt, sondern soeben herumgeistert und sein Unwesen treibt.

Ausgestopfte Tiere, Wachsfiguren oder Turners Gemälde: Dinge, die Museen sammeln und beherbergen sind säkulare, oder besser pseudo-religiöse Reliquien. Geht man nicht gerade Sonntags ins Museum?2 Führt ein Museumsbesuch gar zum Ablass?3 “Die Reliquie ist das, was von dem Toten aufbewahrt wird, damit sie im Namen der Realität dafür garantiere, daß er nicht wiederkehrt”. Sie gewinnt “ihren Sinn in dem Wunsch, etwas von dem zu bewahren, von dem man sich trennt, ohne deshalb darauf verzichten zu müssen, sich von ihm zu trennen.”4 Von dem einst Lebenden wird also etwas aufgehoben, das den nun Toten auf sein Tod-Sein regelrecht festnagelt. Dem realen, physischen Tod, heißt es, muss der symbolische folgen. “Letzterer erfordert nach wie vor die Trauer(arbeit), weil sonst bekanntermaßen die Welt von lauter Vampiren und Zombies bevölkert würde.”5 Friedhöfe und Museen sind Instanzen der Trauerarbeit, wiederkehrende Tote dagegen ein Bild des Schreckens. Sie kehren zurück “als Eintreiber einer…


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