Amine Haase
Ein Zeuge der Zerrissenheit
»Caravaggio – The Final Years«
The National Gallery – 23. 2. – 22. 5. 2005
Der Blick stürzt genau in den Abgrund, der sich zwischen der Brutalität des Dargestellten und der Schönheit der Darstellungsweise auftut. Der Sturz erzeugt ein Gefühl des Schwindels, einen Verlust an Bodenhaftung, der den eigenen Körper deutlicher spüren lässt und den Geist zum Fliegen bringt. Die Faszination hält an – auch wenn der Maler fast vierhundert Jahre tot ist – Michelangelo Merisi, der sich nach seinem lombardischen Heimatort Caravaggio nannte. Auch im Jahr 2005 zeigt er sich als unser Zeitgenosse, ein Zeuge der Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach einer Erneuerung des Geisteslebens und dem Zweifel an den Möglichkeiten einer Umsetzung. Galilei und Johannes Kepler, Shakespeare und Michel de Montaigne waren Zeitgenossen Caravaggios. Die katholische Kirche, Traditionsbewahrerin – und größte Auftraggeberin für Italiens Künstler, war durch Martin Luthers Reformation erschüttert und hatte im Trienter Konzil Eckpfeiler für neue Wege gesetzt. Die geistigen Veränderungen und der parallel verlaufende gesellschaftliche Umbruch verunsicherten die Menschen. Caravaggios Bilder lassen uns noch heute den schwankenden Boden spüren, auf dem sich die Menschen im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert bewegten. Eine fest konturierte Epoche – die Renaissance – glitt in Jahre des Chaos und des Undefinierten. Alles gerät in Bewegung, die Hierarchien werden erschüttert, die religiösen ebenso wie die politischen und gesellschaftlichen. Vielleicht sind wir heute besonders sensibel für die Zeichen der Zerrissenheit. Befinden wir uns nicht ebenfalls in Zeiten des Umbruchs? Aber auch die Bilder selber geraten…