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Titel: Ästhetik des Reisens · von Felix Philipp Ingold · S. 191 - 193
Titel: Ästhetik des Reisens , 1997

Felix Philipp Ingold
Flugmythos als Lebenskunst

»Wo kein Weg vorgezeichnet war,sind wir geflogen …«
Rainer Maria Rilke

Seit ältesten Zeiten wird der Zustand, wird vor allem der Akt geistiger Kreativität, wie er sich im formbildenden Schaffen der Künstler, der Dichter vollzieht, immer wieder – und immer wieder neu – mit dem Element der Luft, mit den “dynamischen Wohltaten” (Gaston Bachelard) der Erhebung und der Schwerelosigkeit, der Expansion und Ekstase in Verbindung gebracht. Was man in diesem Zusammenhang gemeinhin als Inspiration, als Enthusiasmus bezeichnet, nämlich die “Eingebung” reinen Atems, reinen Hauchs von unklarem Ursprung beziehungsweise die “Besessenheit” durch eine göttliche Instanz oder Substanz, ist Voraussetzung dafür, daß der imaginäre Aufschwung – fort von der als beengend empfundenen Alltagswirklichkeit, fort auch vom Kanon kultureller Überlieferung und väterlicher Unterweisung – in eine höhere Welt gelingen kann.

Inspiration und Enthusiasmus werden, in solchem Verständnis, generell mit künstlerischem Schöpfertum, besonders aber mit der Dichtkunst assoziiert; als fremdbestimmte, irrationale und vorwiegend rezeptive Geisteszustände sind sie jeglicher Empirie – technischer Fertigkeit ebenso wie kritischem Vermögen – entgegengesetzt. Wer sich im Zustand der Inspiration, des Enthusiasmus befindet, analysiert nicht, unterscheidet nicht, wertet nicht; er ist, was er tut. Der Begeisterte wird zum ausführenden Organ eines unergründlichen höheren Willens, er ist – nach Platon – “nur eigentlich Sprachrohr des Gottes”, oder er dient den Musen als Spielball.

Daß Begeisterung als eine Form von “Bewußtlosigkeit”, sogar von “Wahnsinn” zu gelten habe, ist seit dem klassischen Altertum zu einem oftmals wiederkehrenden, bald ironisch, bald polemisch intendierten Topos geworden. Wer begeistert, mithin von fremdem Geist besessen ist,…


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von Felix Philipp Ingold

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