Relektüren
Folge 64
Rainer Metzger
„Je zivilisierter der Fahrplan, je effektiver die Technik, um so katastrophaler die Destruktion im Kollaps. Es besteht ein genaues Verhältnis zwischen dem Stand der Technik der Naturbeherrschung und der Fall höhe dieser Technik. Das vorindustrielle Zeitalter kennt den technischen Unfall in diesem Sinne nicht. ‚Accident‘ ist in der Diderotschen Encyclopédie ein grammatikalischer und philosophischer Begriff, der Unfall ist ein Synonym für den Zufall. Die vorindustriellen Katastrophen sind Naturereignisse, Naturunfälle. Sie kommen auf die Gegenstände, die sie vernichten, von außen zu, als Sturm, Flut, Blitzschlag, Schlagwetter usw. Demgegenüber kommt die Vernichtung durch den technischen Unfall, die die industrielle Revolution beiträgt, gleichsam von innen. Die technischen Apparaturen zerstören sich durch ihre eigene Kraft“ (S. 118): So geht eine der vielen Passagen, durch die aus einem Buch über die Entstehung der Eisenbahn und des Reisens mit ihr eine Zivilisationsgeschichte wird, eine Theorie des Zeitalters insgesamt, die genau am Sattel dessen, da die Postmoderne eine neue Epoche zu voltigieren versucht, eine Vormoderne von einer Moderne abgrenzt. Und diese wiederum, für uns heutige, von einer Gegenwart.
Aber der Reihe nach. Als bedürfe es einer buchstäblichen Illustration für den Begriff der „Fallhöhe“, den Wolfgang Schivelbusch in den zitierten Zeilen bemüht, zeigt der Schutzumschlag seines Buches einen berühmt gewordenen Bahnhofssturz. Am 22. Oktober 1895 durchbrach ein Zug das Gleisende, den Prellbock und den Querbahnsteig der Pariser Gare Montparnasse und durchschlug die Außenmauer dergestalt, dass die Lokomotive nun kopfüber auf die eine Etage tiefer entlangführende Place de Rennes kippte. Der Rest des Zuges mit Tender und…