LUCIUS BURCKHARDT
Natura Maestra
ÜBER PFLANZEN, TIERE, LANDSCHAFT UND ANDERE PHÄNOMENE IN NATUR UND KUNST
Die Natur ist meine Lehrmeisterin” – seit der Antike und bis in unser Jahrhundert hinein sagen und wiederholen Künstler diesen Satz. Aber was wollen sie damit sagen? Auf der volkstümlichen Ebene wird der Satz immer so verstanden, daß die Künstler eine perfekte Nachahmung, eine augentäuschende Malerei ober Skulptur anstreben, und sicherlich haben das auch viele Künstler gemeint. Bis ins 18. Jahrhundert war die am nächsten zur Augentäuschung hingelangte Kunst die Skulptur mit gefärbtem Wachs. Heute rechnen wir diese Handfertigkeit, die im anatomischen Modell einerseits und im Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud andererseits ihre vielbewunderte Ausprägung findet, nicht mehr zur Kunst.
Und die Malerei? Von der dreidimensionalen Wirklichkeit augentäuschend in die Zweidimensionalität zu gelangen wird immer noch als große Meisterschaft gehandelt. Auf der documenta 7 und anderswo wird der italienische Künstler Carl Maria Mariani bewundert, der Menschengruppen in architektonischen Staffagen altmeisterlich und augentäuschend malt.
Zeuxis vs. Parrhasius
Als Beispiel dafür, daß schon die Antike diesem Ideal nachhing, wird immer die Geschichte von Zeuxis und Parrhasius erzählt, die zusammen eine öffentliche Wette abgeschlossen hatten, wer von beiden der bessere Maler sei. Zeuxis erschien auf dem Marktplatz mit einem Bilde, das ein Mädchen darstellte, welches Trauben in den Händen hält. Dabei waren die Trauben so augentäuschend echt gemalt, daß die Vögel aus der Luft sich darauf stürzten und in die Malerei hineinpickten.
“Er hat schon gewonnen,” rief das Volk, als Parrhasius mit seinem Bilde kam, das noch von einem Vorhang bedeckt war. “Laß mal sehen,”…