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Titel: Theorien des Abfalls · von Volker Schunck · S. 60 - 61
Titel: Theorien des Abfalls , 2003

SHORT CUTS 8: ANNELIES STRBA
ABFALL ALS PERSÖNLICHE FREIHEIT

von Volker Schunck

Im alten Dorfkern von Richterswil, einer wohlhabenden Gemeinde am Zürichsee, wurde 1977 ein Vierfamilienhaus abgebrochen, das bis zu ihrem Tode einer Anna Elsener gehörte. Seit Jahren hatte sie dort allein gelebt, nur mit einem Dutzend Katzen. Niemand hatte in ihren letzten Lebensjahren das Haus betreten dürfen.

Als man ihren Leichnam barg, entdeckte man ein unsägliches Chaos. Meterhoch türmten sich in den Zimmern umgeworfene Möbelstücke, Hausrat, Gerümpel, Zeitungen, Abfälle, Fäkalien. “Es sah aus, als hätte man eine Müllkippe ausgebreitet”, erinnert sich der Gemeindeamtmann. Und niemand im Dorf habe gewusst, unter welch erschütternden Umständen sie zuletzt mehr vegetiert als gelebt haben musste.

Als die Mutter Anfang der 50er Jahre starb, erbte Anna Elsener das Vierfamilienhaus. Im Parterre des Hauses richtete sie eine Art Laden ein, wo sie vorübergehend Stoffe und Hemden verkaufte. Dann versuchte sie es mit Antiquitätenhandel und dem Restaurieren von Möbeln. Regelmäßig besuchte sie Brockenstuben und Flohmärkte der Umgebung oder sicherte sich hier und dort ein Möbelstück, wenn jemand gestorben war. Viel verdiente sie kaum – sie hortete mehr, als sei verkaufen konnte. Geschäftliche Unerfahrenheit und der letztlich dilettantische Charakter ihrer Unternehmungen mögen dazu beigetragen haben, dass sie in finanzielle Schwierigkeiten geriet, und die Schulden ihr über den Kopf wuchsen.

Als sich die Betreibungen häuften, wurde ihre Liegenschaft 1959 von der Gemeinde in betreibungsamtliche Verwaltung genommen, und ihre Zimmer zwangsweise an Gastarbeiter vermietet. Sie selbst wurde auf das Existenzminimum gesetzt. Nach zwei Jahren waren die dringendsten Schulden getilgt, und sie wurde wieder in…


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