Raimar Stange
Sich (an die) Luft machen
Künstlerisch-aktivistische Interventionen im Berliner Stadtraum und ihre Geschichte
I. Krieg der Zeichen
Bereits 1975 schrieb Jean Baudrillard, Graffiti und urbane Wandmalerei wären „ein neuer Typ der Intervention in die Stadt, nicht mehr als Ort der ökonomischen und politischen Macht, sondern als Zeit/Raum der terroristischen Macht der Medien, der Zeichen und der herrschenden Kultur“.1 Die „Stadt“ ist hier also „nicht mehr das politisch-industrielle Vieleck, das sie im 19. Jahrhundert gewesen ist“, sondern „ein Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes“.2 Bis heute ist es ein engagiertes Anliegen aktivistisch-künstlerischer Kräfte, in dieses mediale Vieleck einzubrechen und gegen seine hegemonialen Ausprägungen anzuarbeiten.
Das Graffiti, von Jean Baudrillard etwas leichtfertig als „eigentümlich New Yorker Phänomen“3 behauptet, hat in Berlin spätestens seit den 1970er Jahren Tradition, heute wird es immer noch vor allem nachts ausgeübt, im prekären Spannungsfeld von lifestyligem Hip-Hop, zeichentheoretischer Praxis und politischer Agitation, in dem Kontext dieses Textes aber sind lediglich die beiden Letzteren von Interesse. Als ein Beispiel für Graffiti als Strategie gegen die ideologische Herrschaft eindeutig festgeschriebener Bedeutungsträger sei hier nun an die langjährige Tätigkeit von „Rainer Nr. 6“ erinnert, einem Graffiti-Aktivisten, der seit den späten 1990er Jahren vor allem die Zahl 6 an Häuserwänden und Mauern, direkt auf Bürgersteigen, Plakatwänden oder Farbeimerdeckeln z. B. gesprayt und gemalt hat. Die Zahl 6, isoliert auf solchen unterschiedlichen Bildträgern, bewegt sich semantisch diffundierend irgendwo zwischen schlechtester Schulnote, lustvoller Körperbetätigung und bloßer Zählung. So gelang es „Rainer Nr. 6“ so spielerisch wie illegal, mit seinen Graffitis als beinahe…