Michael Hübl
Ulysse und das geküsste Bild
Ist Odysseus als Künstlertypus schon im 21. Jahrhundert angelangt?
Vor einer kleinen Freudenbotschaft erreichten die Öffentlichkeit zwei Todesnachrichten: Am 30. Juli starben zwei Regie-Heroen des 20. Jahrhunderts – Michelangelo Antonioni und Ingmar Bergman. Zwei der großen französischen Tageszeitungen meldeten das Ableben der beiden Filmkünstler zeitversetzt. „Le Monde“ brachte einen ausführlichen Nachruf auf Bergman, nahm aber keinerlei Notiz vom Tod des knapp sechs Jahre älteren Kollegen, dem wiederum „Libération“ mehrere Seiten widmete. Kurz darauf erschien in diesem gleichen Blatt eine Geburtsanzeige. Sie wäre wohl nicht weiter aufgefallen, hätte es sich bei dem Neugeborenen wie in den Tagen zuvor um eine Déborah, einen David, einen Maximilian oder um eine Ludmila Michèle Christine gehandelt. Bekannt gegeben wurde jedoch, dass Ulysse ans Licht der Welt gelangt sei. Oder, in der Sprache, die diesen Namen überliefert hat: Odysseus. Die Ankunft des Knaben hat seine Verwandtschaft offenbar in derartiges Entzücken versetzt, dass sie ihre Anzeige mit einer poetischen Petitesse ausschmückte. Mit einem Mini-Gedicht, das zwar nicht den Hexametern Homers folgt, dafür aber von einem gewissen Humor zeugt. Spielt es doch im Auslaut mit unterschiedlichen Varianten des Vokals „a“, die sich allerdings nur im mündlichen Vortrag erschließen: „Ulysse est lá, dans nos bras et nous sommes déjà fous de joie“1.
Odysseus ist da, in unseren Armen, und wir sind schon verrückt vor Freude: So prosaisch die deutsche Übersetzung auch daherkommt, so deutlich erinnert sie an den hohen Symbolwert, der hinter einer solchen Namensgebung steckt. Die Eltern stellen ja nicht nur eine Verbindung zur…