Von Beruf unschuldig.
Politik der Kunst und die Sündenbock-Funktion
von Jörg Heiser
Bekanntlich gibt es derzeit eine weltweite politische Verschärfung in Richtung reaktionärer, rechtsradikaler Denkmuster. Von verschiedenen Faktoren, zu denen technische „Digitalisierung“ und wirtschaftliche „Deregulierung“ nur die knappsten Stichworte sind, wird diese Verschärfung beflügelt, wenn nicht mitverursacht. Vor diesem Hintergrund scheint auch ein altbekannter Sündenbockmechanismus in der Kunstwelt und angrenzenden kulturkritischen Diskursen aufzuerstehen.
Manchmal fühlt man sich gegenwärtig an die weniger erfreulichen Aspekte der späten Avantgarden in den 1960er und frühen ’70er Jahre erinnert, wenn versucht wurde, einzelne Akteure als Verräter und Komplizen der übelsten Schweine zu brandmarken und der Lächerlichkeit preiszugeben. So geschehen etwa mit Philip Guston im Zuge seiner 1970er Ausstellung bei Marlborough Gallery, bei der er zum ersten Mal seine im Comic-Stil darstellenden Bilder zeigte, nachdem er sich zuvor von der Abstraktion verabschiedet hatte. Der Kritiker Hilton Kramer beispielsweise schrieb einen Verriss, dessen Überschrift schon Guston als Person angriff: „A Mandarin pretending to be a Stumblebum“, also etwa: „Ein Funktionär, der so tut, als sei er ein Volltrottel“.1 Der „Verrat“ Gustons hatte darin bestanden, die ideologische Wasserscheide des abstrakten Expressionismus als vermeintliches Kürzel für „Freiheit“ und ästhetische Ultramodernität gebrochen zu haben, hin zu den Niederungen eines satirisch-eigenwilligen bildnerischen Angriffs auf die Wirklichkeit mit ihren Ku-Klux-Klan-Kutten und Richard-Nixon-Knollennasen. Heute scheinen wieder ähnliche Mechanismen zu greifen, nur diesmal in den Sozialen Medien, vor klickfreudigem, angefixtem, schnappatmendem Publikum.
Erfrischende Polemik wird hier unter der Hand zum giftigen Rufmord, welcher auf eine latente Mob-Mentalität im virtuellen Wildwest-Raum zählt. Um drei Beispiele…