Eva Mongi-Vollmer
Das Atelier als »anderer Raum«
Über die diskursive Identität und Komplexität des Ateliers im 19. Jahrhundert
Imaginationsraum“, „Ort des kreativen Schaffens“, „Wirkungsstätte des Genies“ – auch in der aktuellen Forschung zu Ateliers der Moderne und Gegenwart werden diese Termini genutzt, um die Besonderheit des Ateliers zu beschreiben.1 In meiner Untersuchung zum Atelier im deutschen Sprachraum während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts komme ich zum Ergebnis, dass diese Begriffe zwar auch damals benutzte Bezeichnungen waren, das Atelier jedoch nur unvollständig wiedergeben. Denn unter dem Atelier waren ganz andere Dimensionen subsumiert, als man gemeinhin zu rechnen glaubt.2
Um diesen Dimensionen Rechnung zu tragen, ist es notwendig, einen diskursiven Ansatz zu wählen. Denn durch Diskurse öffnet sich der Künstler-Arbeitsraum in seiner Bedeutung weit über die eingangs genannten Aspekte hinaus. Sichtbar wird unter anderem, dass das Atelier unter der Angabe von Öffnungszeiten in Reiseführern auftaucht, dass es im Kontext der bürgerlichen Ordnungs- und Sauberkeitsregeln diskutiert wird und auch Thema einer parlamentarischen Sitzung im Reichstag ist, auf der die „Scham- und Sittlichkeitsgefühle“ via Gesetz geschützt werden sollten. Zugleich findet es sich auf der Agenda von Staatsoberhäuptern zwecks Besuches.
Aus dieser neuen Perspektive auf das Atelier erwächst das Bedürfnis nach einem Denkmodell, der dieser Heterogenität Rechnung tragen kann. Poststrukturalisten wie Foucault, Bachelard und Deleuze nutzen für derlei Konstellationen den Begriff des Gefüges.3 Ausgehend vom Atelier als Gefüge, als „anderer Raum“ und Heterotopie lassen sich bisher unbeachtete Diskurse und Praktiken erfassen, durch die sich das Atelier neu konstituiert: Die Identifikation von Künstler, Werk und Atelier (Kap. 3), das…