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Titel: Ästhetik des Reisens · von Thomas Macho · S. 229 - 233
Titel: Ästhetik des Reisens , 1997

Thomas Macho
Reisen, Übersehen

Kultur- und Reisetechnik im Zeichen des Mauerfalls zwischen Mensch und Landschaft

Vertikale Übersicht

In »Understanding Media« behauptet Marshall McLuhan, die Autobahn habe sich als “Mauer zwischen Mensch und Landschaft”1 errichtet. Diese These verdankt ihren Witz der paradoxen Charakterisierung von Verkehrswegen durch die Leitmetapher urbaner Seßhaftigkeit; sie dementiert, was Walter Ostwald 1937, im NS-Verkehrsfachblatt »Die Straße«, als eigentlichen Vorzug der Reichsautobahnen feierte: die vom städtischen Chaos emanzipierte “neue Schau der deutschen Landschaft”2. Heute fährt niemand mehr über die Autobahnen, um sich an irgendwelchen »Naturschönheiten« zu erfreuen, sondern um möglichst rasch von einem Knotenpunkt zum nächsten zu gelangen. Autobahnen sind »Städteschnellverbindungen«, die keine »Stadtflucht« begünstigen, sondern vielmehr eine Projektion urbaner Arrangements auf die Landstraße, – was McLuhan klar erkannte, ohne doch einer agrarromantisch inspirierten Zivilisationskritik zu folgen. Unzweifelhaft verstand er »Landschaften« als kulturelle Artefakte, die einer historischen Entwicklungsarbeit entspringen, nicht jedoch als Offenbarungen einer »unberührten«, verkehrstechnologisch unterworfenen Natur. Was durch die »Mauern« der Autobahnen ausgegrenzt – und womöglich in eine neue Art von Wildnis verwandelt – werde, erschien ihm als das vielfältige Resultat politischer, ökonomischer, militärischer oder kartographischer Anstrengungen, – nicht als der Traum-Ort eines ehemals »richtigen« Lebens.

»Landschaften« verdanken ihre Gestalt, – diese frühe Antizipation der filmischen Totale, wie sie etwa im Panorama des neunzehnten Jahrhunderts aufzutreten pflegte, – einer Wahrnehmungspraxis, die sich am besten als »Übersehen«, und zwar in des Wortes doppelter Bedeutung, kennzeichnen läßt. Wer Übersicht gewinnen will, muß strategisch ausblenden, was seiner jeweils eingenommenen Wahrnehmungsperspektive nicht subordiniert werden kann. Wer eine historische, politische, wirtschaftliche, militärische oder geistige Lage…


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