Die dunkle Seite der neo-liberalen Gesellschaft
Chto Delat über Zeitungen, Kunst und Macht
Ein Gespräch mit Olga Egorova und Dmitry Vilensky von Herbert Kopp-Oberstebrink und Judith Elisabeth Weiss
Böse Wetter sind im Bergbau toxische Gasgemische, die tödlich sein können. Die Bergleute nahmen Kanarienvögel in Käfigen mit in die Grube, weil die Tiere bei Sauerstoffmangel früher starben als die Menschen. Dies war ein Zeichen, dass man dringend umkehren musste, nach oben, ehe die Luft ganz ausging. Das russische Kollektiv Chto Delat (‚Was tun?‘) nimmt diese Praxis als Metapher für die Beschreibung der Gegenwart, einer Gegenwart, die einem Schacht gleicht, in dem es immer tiefer ins Dunkel nach unten führt. Die Videoarbeit Testimonies of a Canary (2022) und die Zeitungsausgabe Canary Archives (2022) sind angesichts des russischen Invasionskrieges gegen die Ukraine entstanden und thematisieren das Leben, Denken und künstlerische Arbeiten untertage. Was tun, wenn die Luft zum Atmen dünn wird und die eigene Existenz bedroht ist? Wie lange noch kann man bleiben?
Chto Delat wurde 2003 in Sankt Petersburg gegründet und gehört seit Jahren zu den wichtigsten Stimmen einer kritischen Kunst in Russland. Das Kollektiv verbindet politische Theorie, Kunst und Aktivismus und hat in 20 Schaffensjahren eine enorme Bandbreite an Aktivitäten hervorgebracht. Sein Werk besteht aus Videoarbeiten und Theaterstücken, Musical-ähnlichen Songspielen bis hin zu Radiosendungen, Wandmalereien, Kunstprojekten, Seminaren und öffentlichen Kampagnen. Chto Delat betreibt das Kulturzentrum „Rosa’s House of Culture“ in St. Petersburg und gründete 2013 eine Bildungseinrichtung. Die „School of Engaged Art“ stellt sich einer sozialen und politischen Situation entgegen, in der grundlegende demokratische…