Jutta Schenk-Sorge
Henri Matisse: A Retrospective
Museum of Modern Art, New York, 24.9.1992 – 12.1.1993
Es ist eine großartige Ausstellung und eine sehr zeitgerechte. Denn wo das Angebot der aktuellen Kunst optisch immer karger und ihre Aussage eher über den Kopf als über das Auge vermittelt erscheint, behaupten Matisses Bilder die Macht des Visuellen, dessen emotionale und spirituelle Kraft. Die außerordentliche Präsenz seiner Werke teilt sich unmittelbar mit. Eben dies blieb – von den fauvistischen Bildern an – ein lebenslanges Anliegen des Künstlers. Der Gehalt des Bildes soll bereits “in den Linien, der Komposition, den Farben enthalten” sein, so daß der Betrachter den Gefühlsausdruck der Komposition erfaßt, noch ehe er ihren gegenständlichen Inhalt erkennt. Unter diesem übergeordneten Ziel läßt sich auch Matisses große stilistische Spannbreite verstehen, die von nahezu abstrakten bis zu fast naturalistischen Bildern reicht. Nachdem in den letzten Jahrzehnten nur isolierte Werkgruppen wie die Marokko- oder die Nizza-Bilder vorgestellt wurden, gilt es jetzt, so der Kurator John Elderfield, die innere Kohärenz eines Gesamtwerkes aufzuzeigen, das dem Augenschein nach in disparate Perioden zerfällt und das lange als zu dekorativ oder, wie von amerikanischen Malern der 60er Jahre, unter rein formalen Aspekten betrachtet wurde. Mit über 400 Werken, primär Gemälden, dazu Skulpturen, Zeichnungen und “Gouaches découpées” ist dies nicht nur die umfassendste Matisse-Schau (besonders durch Leihgaben aus Rußland), sie will auch das “definitive” Bild seiner Kunst geben. Zweifellos vermittelt sie einen überwältigenden Eindruck von der Vielfalt künstlerischer Lösungen, die Matisse innerhalb seiner begrenzten Themenwahl findet, und sie verdeutlicht die Komplexität und Vielschichtigkeit,…