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Titel: 59. Biennale Venedig - Biennale Gespräche · von Heinz-Norbert Jocks · S. 298 - 300
Titel: 59. Biennale Venedig - Biennale Gespräche ,

59. Biennale Venedig Gespräche
Marco Fusinato

Soundbildskulpturen aus Luft und Licht

Heinz-Norbert Jocks: Dein Projekt heißt „Desastres“ und ist ein experimentelles Geräuschprojekt.

Marco Fusinato: Ja, es synchronisiert Ton und Bild. Ich benutze eine E-Gitarre als Signalgenerator für eine Massenverstärkung, improvisiere Platten mit Geräuschdiskordanz und -intensität und satten Rückkopplungen, um eine Flut von Bildern auszulösen. Die Bilder stammen alle aus dem Internet von offenen Plattformen. Irgendwann war ich von diesem Prozess frustriert, weil die Computer immer wieder abstürzten. Deshalb fing ich an, mit der Kamera meines Telefons zu fotografieren, und sammelte eine Masse an Bildern. Sie bilden die Grundlage für das, was du hier siehst, ohne nach thematischen Kriterien ausgewählt worden zu sein. Ich nehme sie, weil ich sie für beschissen halte, was auch immer das bedeutet. Du hast entweder Einzelbilder oder Doppelbelichtungen vor dir. Mal sind es Negative, mal Positive, manchmal so herangezoomt, dass nur die Körnung des Bildes zu sichtbar ist. Alle Bilder sind schwarz-weiß. Das Gerät, mit dem der Ton und das Bild synchronisiert werden, kann von mir mit dem Instrument gesteuert werden, und ich kann die Bilder und den Ton über die Leinwand schwenken, über die Verstärkung links und rechts, wo ich in Mono spielen und die Bilder zentrieren kann.

Die Installation besteht aus einem raumhohen LED-Bildschirm und sechs Vollverstärkern. Das sind die beiden wichtigsten materiellen Elemente, und die Idee ist, dass sie groß sind und eine so überwältigende Wirkung haben, dass sie zu skulpturalen Elemente werden. Ich bin das dritte Element, denn ich trete hier 200 Tage lang auf. Jede Minute oder Stunde eines Tages wird also ganz anders sein, je nachdem, wohin ich den Klang und das Stück bringen will.

Warum Bilder, die Du „beschissen“ findest?

Ich komme aus der Underground-Musik, dem Noise und den verschiedenen Aspekten des Metal. Von daher interessiert mich diese Art von degradierten Bildern. Die Ästhetik von Fotokopien. Mir gefällt die Körnung eines Bildes, und ich ziehe dies bei weitem einem hochaufgelösten 4K-Bild vor. Die visuelle Bandbreite ist vielfältig, sie reicht von Bildern aus der Kunst- und Naturgeschichte bis hin zur Pressefotografie und allem, was dazwischen liegt. Es kann ein Bild von einer Biene ebenso sein wie das Bild von einem obskuren Gemälde aus dem 15. Jahrhundert oder einem Aufstand. Durch den von mir produzierten Ton ist eine Menge Textur und Körnung zu sehen. Die Rückkopplung und das Rauschen haben ebenfalls eine große Textur, so dass Ton und Bild gleichwertig sind.

Das Projekt hast Du zusammen mit dem Metal-Schlagzeuger Max Kohane konzipiert.

Ja, er hat in einigen Bands wie Faceless Burial, Internal Rot und Agents of Abhorrence gespielt, einer fantastischen Grindcore-Band. Die Idee bei diesem Projekt war also, dass er trommelt, und da er ein erstaunlicher Schlagzeuger ist, konnte er sehr schnell trommeln und die Bilder auslösen. Und ich reagiere darauf mit der Gitarre, und zusammen kreieren wir diese Art von Situation mit Bildern und der Sound.

Ich wüsste gerne mehr über deine Beziehung zur Musik.

Ich habe mich schon immer für die E-Gitarre interessiert, sie ist das Instrument, das mein Leben bestimmt. Für jemanden, der in den 60er Jahren geboren wurde, ist die E-Gitarre bis heute das beliebteste Instrument, sie ist das Unterhaltungsinstrument des Kapitalismus und wird für den Verkauf vieler Waren verwendet. Ich habe früh erkannt, dass ich sie nie so spielen können werde, wie es erwartet wurde. Damals, als ich in jungen Jahren Musikläden aufsuchte, gab es dort eine Sektion, die einem sagte, man solle sich an dem Spielstil eines berühmten Gitarristen orientieren. Mir aber war klar, dass ich weder über die technischen Fähigkeiten verfügte. Noch hatte ich das Gehör oder die Geduld. Da es keinen Bereich gab, der vorgab, wie man anders spielen kann, konnte ich meine eigene Technik und Sprache entwickeln. Meine Herangehensweise an das Instrument ist konzeptionell und nicht technisch, weshalb ich verschiedene Spielweisen entwickeln konnte. Dabei reizte mich vor allem all das, was üblicherweise aus einer Aufnahme eliminiert wird, wie Rückkopplung, Rauschen und Summen.

Kunst und Musik sind bei dir eng verknüpft.

Ja, als Künstler und Geräuschmusiker, der in Galerien ausstellt und in Clubs auftritt, separiere ich nicht das eine vom anderen. Beides ist Teil meines Lebens und meiner Arbeit. Ich wollte mich nie entzweien. Ich neige zu Projekten, von denen jedes ganz anders ist. Mal beinhalten sie Sound, mal nicht. Ich bin offen dafür, alles einzubringen, wenn es Teil der Idee ist, die ich gerade erforsche.

Wer sich dem aussetzt, was Du vorführst, spürt, dass der Sound, den er hört, sehr körperlich ist.

Ja, Sound hat etwas Physisches. Es geht nicht nur darum, ihn zu hören, sondern darum, ihn zu fühlen. Ich interessiere mich für die Körperlichkeit von Sound und bewegter Luft. Die dabei entstehenden Schwingungen sind wichtig für den Sound, und dadurch, dass er körperlich ist, hat er etwas Skulpturales. Man kann bewegte Luft und strahlendes Licht durch den Raum schieben, um das Publikum physisch zu beeinflussen, und genau das ist der Kern dessen, was ich gerne präsentieren möchte. Letztendlich erschaffe ich eine Skulptur aus Ephemerem wie Licht und Luft und würde gerne erreichen, dass das Publikum alles hinter sich lässt und sich in diesem Raum von der Musik völlig einnehmen lässt, während der Verstand aus dem Arsch fällt.

von Heinz-Norbert Jocks

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