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Titel: Fiktion der Kunst der Fiktion · von Knut Ebeling · S. 110 - 123
Titel: Fiktion der Kunst der Fiktion , 2010

Knut Ebeling
Monuments imaginaires.

Albrecht Schäfers Archäologien der Abweichung
Das Monument des Modernismus

Sechsundachtzig Grad sind nicht neunzig Grad. Oder nur fast. In einer Abweichung von genau vier Grad besteht 86°, eine Arbeit von Albrecht Schäfer. Die 1997 entstandene Arbeit befindet sich an der Fassade der Hochschule der bildenden Künste in Braunschweig. Unverkennbar stellt das 1984 fertiggestellte Gebäude ein architektonisches Monument dar. Zugleich wirkt die komplett rechtwinklige Fassade aber auch wie ein Zitat der Architektur des Neuen Bauens und wenn man so will der Rationalität. Nichts unterbricht die Abfolge der rechten Winkel, deren Apotheose durch keine Krümmung gestört wird. Keine Krümmung? Wirft man einen genaueren Blick auf die Halbsäulen im Erdgeschoß, so will es scheinen, als ob sie sich nach oben hin verjüngten. Aber es kann sich bei der Abweichung auch um eine optische Täuschung oder um einen Fehler bei der Bauausführung handeln.

Um einen Fehler, um eine Abweichung mit System allerdings. Denn tatsächlich hat Schäfer an dieser Fassade einen Eingriff am Rande der Unsichtbarkeit vorgenommen. Die Seitenflächen der drei Pfeiler wurden von ihm so verschmälert, daß sie minimal vom rechten Winkel abweichen. Um vier Grad, um genau zu sein. Indem nur vier Grad vom rechten Winkel entfernt wurden, findet sich ein kompletter Modernismus kommentiert. Durch diese Abweichung gerät ein ganzes Gedankengebäude – das Monument des Modernismus – ins Wanken. Denn ganz gleich, ob man 86° als Kritik am Modernismus oder als autonome architektonische Intervention liest, die minimalistische Raffinesse der Arbeit liegt darin, daß Schäfer der Geschichte des Modernismus seine Sicht nicht hinzufügt,…



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