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Titel: Report. Bilder aus der Wirklichkeit · von Sabine Maria Schmidt · S. 46 - 45
Titel: Report. Bilder aus der Wirklichkeit ,

Report. Bilder aus der Wirklichkeit

Plädoyer für Dokumentarismen in der Fotografie
herausgegeben von Sabine Maria Schmidt

Alles Wahrheit? Alles Lüge? „Menschen treffen in Sekundenbruchteilen die Entscheidung, ob sie einem Foto vertrauen“, äußerte jüngst Scott Lowenstein von der New York Times. Doch obwohl aktuell fast jeder als „Fotograf*in“ bzw. digitale*r Bildproduzent*in tätig ist, denken nur wenige über Medien-Bilder nach. Wir leben in einer Zeit gravierender technischer und kultureller Umbrüche, die ein neues Wissen über das Lesen von Bildern und Kenntnis über ihre Distributionssysteme erfordert. Die sich viral ausbreitenden Manipulationen und Fälschungen beanspruchen immer mehr Platz in einer globaler gewordenen Bildkultur. „Authentische“ Bilder sind dabei umso wichtigere Zeugnisse und Werkzeuge mit politischer Wirkung. Allerdings nicht nur für Journalist*innen: Dazu gehören seit Beginn des 21. Jahrhunderts auch die von äußerster Gewalt geprägten Live-Übertragungen von Terrorakten, Missbrauch und Gewalttaten. Täter*innen beschwören die Authentizität ihrer Taten, indem sie diese selber aufzeichnen (Horst Bredekamp).

Fotografie hatte mit direkter Repräsentation von Realität nie zu tun. Doch zeichnet sie diese neben dem Film wie kein anderes Medium nach. Angesichts der in den letzten Jahren gewachsenen Präsenz von Lügnern, Demagogen, Falschinformationen, Verunglimpfungen von Fachleuten verschiedenster Berufssparten, zunehmender Zensur von Bildern (und auch Worten) ist dieser Band von der Haltung motiviert, von rational argumentierbaren Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriffen nicht abrücken zu wollen. Sie bilden den Ausgangspunkt dafür, sich erneut mit Fragen des Dokumentarischen und den Strategien von Dokumentarismen zu beschäftigen.

Diese Ausgabe widmet sich anhand aktueller Positionen und jüngster Ausstellungen der künstlerischen Produktion und Auseinandersetzung mit journalistischen und dokumentarischen Bildern und dem Interesse an historischen Bildarchiven. Vorgestellt werden fotografische Positionen, die sich dem allgegenwärtigen Präsentismus eher entziehen. Zugleich stellt sie Positionen vor, bei denen sich die Fotografie immer gegen ihre eigenen Perspektiven, ihre eigenen Ansprüche abarbeitet.

Nach einer allgemeinen Einleitung der Herausgeberin zum Thema, führt Christin Müller in ihrem Essay Bildstrategien einer jüngeren Generation von künstlerischen Dokumentarfotograf*innen aus. Zwei kuratorische Bildessays von Sabine Maria Schmidt widmen sich dem Thema des ästhetischen „Kapitalwerts“ (Estelle Blaschke) von Bildern und dem „alten Spiel“ des Perspektivwechsels von Beobachten und Beobachtet werden. Höchst aktuell ist dabei die Auseinandersetzung von Künstler*innen mit historischen und analogen Bildarchiven.

Bilder von Krieg und Krisen werden oft als journalistisch brillante und ästhetische Bilder ausgezeichnet; was zugleich immer auch Unbehagen auslöst. Wo sind die Grenzen des Zeigbaren? Felix Koltermann erläutert aktuelle Aspekte im Umgang mit Kriegsfotografie, aber auch die Mitwirkung und Verantwortung von Konsument*innen. Jan Wenzel erinnert an die Distribution des Bildes des vor fünf Jahren ertrunkenen Alan Kurdi und setzt es in Bezug zu Brechts Kriegsfibel. Jolanda Wessel fasst in einer Textcollage Hito Steyerls Gedanken zu Dokumentarismen zusammen.

Befragt wurden in zahlreichen Interviews Prota-gonist*innen der Fotoszene. Florian Ebner reflektiert ein Ausstellungsprojekt mit dem Fotografen Bruno Serralongue im Centre Pompidou. Serralongue hat über viele Jahre Flüchtlinge in Calais fotografisch begleitet. Korpys / Löffler sprechen über Ihren Film Echokammer und die Medienberichterstattungen auf dem G20-Gipfel in Hamburg. Holger Wüst erläutert sein Prinzip digitaler Fotocollagen, die man als zeitgenössische, ideologiekritische und äußerst referenzreiche Weltenbilder bezeichnen kann. Das Künstlerduo Katja Stuke und Oliver Sieber führt mit ihren fotografischen Wanderungen und Reisen zu Langzeitrecherchen durch Krisengebiete und Popkultur.

Fotografie, sei sie historisch oder aktuell, analog oder digital, ist „in“; sowohl in der Theorie, auf Festivals und dem Kunstmarkt. Welche aktuellen Debatten geführt werden und welchen Stellenwert die Faktizität von Bildern zukünftig haben wird, dazu äußerten sich die in Deutschland tätigen Kuratorinnen Stefan Gronert, Barbara Hofmann-Johnson, Heide Häusler und Damian Zimmermann, Thomas Seelig und Kerstin Schankweiler. Von allerorten beschriebenen Krisenstimmungen ist in der Fotografie auf jeden Fall nichts zu bemerken.

von Sabine Maria Schmidt

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