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Essay · von Amine Haase · S. 244 - 247
Essay ,

Die Gefahr liegt im Wegschauen

Brauchen wir eine Moral-Brille für die Kunstbetrachtung?
von Amine Haase

Wird uns das Jahr 2020 als ein Jahr der Vorschriften und der Verbote in Erinnerung bleiben? Die Wahrscheinlichkeit ist groß. Nicht nur wegen einer tödlichen Pandemie, die restriktive Maßnahmen nötig machte. Sondern auch wegen ungezählter Weckrufe zu Wachsamkeit in Kultur und Gesellschaft, die ein weltweites Echo fanden. „Wokeness“, die den Blick besonders auf Rassismus und Sozial-Privilegien richtet, ist notwendig und verständlich. Aber oft nahm sie aggressive, ja zerstörerische Formen an. Sie offenbart die nachvollziehbare Wut derer, die auf anderen Wegen nicht zu der Anerkennung fanden, die ihnen zusteht. Und gleichzeitig die Hilflosigkeit derer, die nicht (mehr) um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit kämpfen müssen, damit umzugehen.

Das ist alles nicht neu, aber deshalb nicht weniger bedauerlich: das Streben von Minderheiten nach Gerechtigkeit und das Sträuben der Arrivierten darauf einzugehen. Tradition hat auch, dass gerade im Kulturbereich die Zahl derjenigen groß ist, die auf der Seite der Unterdrückten stehen. Und das gehört zu den wenigen positiven Aspekten in diesem langen Kampf. Neu allerdings erscheint, dass diese (angeblich) privilegierten Mitkämpfer immer öfter als nicht erwünscht abgewiesen werden. Mit der Begründung, sie gehörten nicht zu der Minderheit, für die sie sich einsetzen. Also Empathie-Verbot? (sh. die Kritik von Schwarzen an dem von einer Weißen, der Künstlerin Dana Schutz, gemalten Bild „Open Casket“, das den Lynchmord an einem schwarzen Jugendlichen 1955 thematisiert.)

Ist das vielleicht ein Grund für einen weiteren, eher neuen Aspekt in diesem Konflikt? Nämlich das Umschlagen von Selbstbewusstsein in Selbstkritik auf Seiten…

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