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Essay · von Wolfgang Welsch · S. 174 - 191
Essay ,

Nach dem Ende des Anthropozäns

Künstlerische Vermutungen
von Wolfgang Welsch

 

1. Die moderne Denkform und ihre Überschreitung – Zur Problematik des Anthropozäns

„Wenn man den Menschen oder das denkende, die Erdoberfläche von oben betrachtende Wesen ausschließt, dann ist das erhabene und ergreifende Schauspiel der Natur nur noch eine traurige und stumme Szene. Das Weltall verstummt, Schweigen und Dunkelheit überwältigen es; alles verwandelt sich in eine ungeheure Einöde, in der sich die Erscheinungen […] dunkel und dumpf abspielen. Das Dasein des Menschen macht die Existenz der Dinge […] erst interessant. […] Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss.“1 Das ist eine exemplarische Formulierung der Denkform der Moderne. Sie stammt von Diderot und findet sich in seinem 1755 publizierten Artikel über die Enzyklopädie.

14 Jahre später, 1769, lesen wir bei einem anderen Autor: „Wer kennt die Tierrassen, die uns vorangegangen sind? Wer weiß, welche Tierrassen uns folgen werden?“2 „Jedes Tier ist mehr oder weniger Mensch, jedes Mineral ist mehr oder weniger Pflanze, jede Pflanze mehr oder weniger Tier. Es gibt keine scharfe Abgrenzung in der Natur …“3 „Alles verändert sich, alles geht vorüber […].“4 Natürlich ist dieser andere Autor erneut Diderot – aber ein Diderot, der sich inzwischen die Perspektive der Evolution zu eigen gemacht hat und dadurch zu einem entschiedenen Kritiker der modernen Denkform geworden ist. Die zuletzt zitierte Äußerung findet sich in Diderots Essay D’Alemberts Traum. Der Mensch hat nun nicht mehr den Status des Leitwesens, nach dessen „einzigartigem Begriff“ alles zu begreifen ist, sondern er ist nur noch eine von vielen Erscheinungen in der Reihe der Evolution – und weder deren letzte noch ihre höchste. Vom Menschen aus die Welt begreifen zu wollen, wäre nur noch schlechter Anthropozentrismus. Das neue Maß ist der „allgemeine Fluss“ der Evolution.5 Und dieser verstattet keine Auszeichnung des Menschen mehr.6 Diese beiden Statements charakterisieren noch die Problematik des Anthropozäns, in dem wir uns gegenwärtig befinden.7 Da ist zum einen das moderne Dogma von der Souveränität des Menschen. Es hat uns – zumal durch seine technologischen Auswirkungen – an den Rand des Zusammenbruchs unserer Lebensbedingungen geführt. Und da ist zum anderen der Gedanke der Evolution. Von ihm aus könnte man das Ende der menschlichen Zivilisation geradezu als einen natürlichen Vorgang begreifen. Wenn im Verlauf der Evolution 99 Prozent der jemals entstandenen Arten wieder ausgestorben sind, warum sollte es dann ausgerechnet bei unserer Art anders sein? Wir sind auf die Natur angewiesen, aber die Natur ist nicht auf uns angewiesen. Die Natur wird auch ohne uns Menschen fortbestehen und ohne Störung durch uns neue Arten hervorbringen.

2. Positionen der Kunst

Wie wird diese kritische Situation seitens der Kunst thematisiert? Es gibt drei Optionen. Eine erste und sehr verbreitete Position vertritt die ökologische Kunst. Sie macht uns auf ökologische Zusammenhänge und Abhängigkeiten aufmerksam und zeigt therapeutische Möglichkeiten auf. Es steht außer Zweifel, dass die ökologische Kunst große Verdienste hat. Aber in den letzten Jahren haben sich mir zwei Bedenken aufgedrängt. Das eine ist extern: Die ökologischen Interventionen wurden zum Bestandteil einer Beruhigungsindustrie, die uns davon abhält, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Die künstlerischen Arbeiten drängen auf solche Maßnahmen, aber in der Rezeption müssen sie oft als Ersatz für nicht stattfindende Maßnahmen herhalten. Das andere Bedenken ist interner Art. Oftmals (gewiss nicht immer) hat ökologische Kunst den Charakter eines dokumentarischen Berichts. Sie illustriert eine gute Intention und feststehende Meinung. Sicherlich ist all das ästhetisch effizient aufbereitet – aber ist es deshalb schon Kunst? „Gut gemeint“, sagte Gottfried Benn einmal, ist das Gegenteil von Kunst.8 Und im Bereich der ökologischen Kunst herrscht zu viel gute Intention und Eindeutigkeit, während Kunst immer Ambivalenz, Irritation und Offenheit verlangt.9 Die zweite Option konzentriert sich nicht auf die Umwelt, sondern auf den Menschen. Sie setzt jedoch auf dessen Transformation in ein transhumanes Wesen. Auf diese Weise umgeht sie die Frage, ob die Erde künftig noch ein Wohnort für Menschen sein wird oder ob sie, gerade infolge unserer Aktivitäten, zu einem inhumanen Terrain werden wird. Man imaginiert vielmehr eine Veränderung des Menschen, welche diesen von jeglichen irdischen Bedingungen unabhängig machen wird. Künstliche Intelligenz und Virtualisierungs-Technologien sollen das leisten.10 Man glaubt also, die technologisch verursachten Probleme des Anthropozäns durch neue Technologien kontern zu können. Das ist natürlich in sich verquer, und zudem bestehen ernsthafte Zweifel, ob diese Technofantasien jemals etwas anderes als Träumereien werden sein können.

Daher werde ich mich im Folgenden ausschließlich mit einer dritten Option befassen. Anstatt sich an der harten Frage eines möglichen Endes des Anthropozäns vorbeizudrücken, macht sie sich daran, eine mögliche Zukunft des Planeten zu erkunden, die nicht mehr mit dem Menschen rechnet oder von ihm abhängt, sondern unabhängig vom Menschen ihren eigenen Weg nimmt – so wie die Natur das immer getan hat. Die Frage lautet also: Wie stellen sich zeitgenössische KünstlerInnen eine nicht mehr human-basierte (oder human-kontaminierte) Zukunft unseres Planeten vor?

3. Anthropozän-Endvisionen Avant La Lettre

Was einem als erstes in den Sinn kommt, wenn man sich dieser Perspektive zuwendet, sind freilich nicht unbedingt zeitgenössische, sondern schon etliche Jahrzehnte zurückliegende künstlerische Äußerungen.

a) Max Ernst: verfallende Städte, Flugzeugfallen, neuartige Mischwesen

So lassen sich manche Bilder von Max Ernst heute so sehen, als suggerierten sie, dass der Mensch durch die Folgen seiner Technologie von der Erde verschwinden und dass die nicht-menschliche Natur die Gebiete der Zivilisation zurückerobern und sich fortan vom Menschen ungestört weiterentwickeln wird. Gewiss: Max Ernst kannte den Terminus „Anthropozän“ noch nicht, und er hatte auch noch nicht die Auswirkungen des Klimawandels vor Augen, die uns heute erschaudern machen. Dennoch: KünstlerInnen sind manchmal Visionäre. Sie bringen etwas ins Bild, was sie selbst allenfalls ahnen, aber noch gar nicht identifizieren können. So scheinen heute zumindest manche Bilder von Max Ernst in Richtung Anthropozän und Ende des Anthropozäns zu weisen.

Da sind erstens riesige menschenleere Städte [02]. Man sieht nur noch erstarrte und verfallende Architekturen, aber keine Menschen mehr. Stattdessen beginnt die Vegetation, diese Städte zu überwuchern, zuzudecken, sich deren Raum zurückzuholen.

Zweitens gibt es Bilder, die Flugzeugfallen zeigen [03]. Gefräßige Vegetation verschlingt Flugzeuge, das stolze Symbol der technologischen Zivilisation.

Wenn im Verlauf der Evolution 99 Prozent der jemals ent standenen Arten wieder aus gestorben sind, warum sollte es ausgerechnet bei unserer Art anders sein?

Drittens gibt es Darstellungen, die neue Wesen – halbanthropomorphe Mischwesen – zeigen, wie sie nach dem Ende der menschlichen Zivilisation die Erde bevölkern und beherrschen mögen [05, 06].

Und dann gibt es schließlich noch ein rätselhaftes (und zu wenig bekanntes) Bild aus dem Jahr 1955 mit dem Titel The Twentieth Century [04]. Die menschen leere Erde ist – in einer ungewöhnlich düsteren Vision – von verkrusteten Strukturen überzogen, das Leben ist erstarrt. Selbst das Mondgestirn darüber deutet in Richtung Leblosigkeit. Keine lebensspendende Sonne steht mehr über der Erde, sondern nur noch ein totes Gestirn – seinerseits Zeuge von Erstarrung und Tod.

Noch einmal: Von einem „Anthropozän“ hat damals noch niemand gesprochen. Die Anlässe für diese Werke lagen im 20., nicht im 21. Jahrhundert. Sie lagen in der Lebenszeit von Max Ernst. Man mag an den Ersten Weltkrieg denken oder an eine Vorahnung des Zweiten Weltkriegs; oder auch an Erfahrungen mit dem Moloch Großstadt und den zerstörerischen Folgen der technischen Zivilisation. Dergleichen mag Max Ernst vor Augen gestanden haben, als er diese Werke schuf. Aber ihr Potenzial reicht – wie das in der Kunst eben oftmals der Fall ist – darüber hinaus. Die Vision einer Endzeit der menschlichen Zivilisation und einer Zukunft, in der die Natur ohne den Menschen weitergehen und die Herrschaft auf diesem Planeten zurückgewinnen wird, ist heute, im Zeitalter des Anthropozäns, aktueller denn je.

 

b) Richard Oelze: Enderwartung, neuartige Organismen

Ein zweiter Ausflug in die Vergangenheit: Auch manche Bilder von Richard Oelze lassen sich auf das Thema des Anthropozäns beziehen. Sie wirken wie Darstellungen eines vage geahnten Endes der Menschheit oder wie Visionen von anorganischorganischen Gebilden, die nach dem Ende des Menschen die Erde bevölkern werden.

Da ist an erster Stelle das berühmte Bild Die Erwartung (1935 – 1936) [07], wo eine Gruppe von Menschen in eine Landschaft blickt, die nicht nur für uns Heutige bedrohliche Züge hat – wir denken da schier unweigerlich an gigantischen Smog oder eine andere die Erde verfinsternde Katastrophe.

Dann sind da (ähnlich wie bei Max Ernst) Bilder, die neuartige Fabel- oder Mischwesen zeigen, wie sie nach dem Verschwinden des Menschen die Erde bevölkern mögen [08]. Man sieht Vegetation auf dem Weg zur Tierwerdung oder merkwürdige, fabelwesenartige Figurenketten oder auch neuartige Zwischenwesen zwischen Fischen und anderen Lebensformen – insgesamt Organismen, wie sie nach dem Verschwinden des Menschen auf der Erde entstehen und die Regie übernehmen könnten [09].

 

4. Zeitgenössische künstlerische Arbeiten zum Ende des Anthropozäns

Kommen wir nun zu zeitgenössischen Thematisierungen des Anthropozäns und seines möglichen Endes.

a) Ältestes wird überleben

Eine erste Option betont – gewissermaßen konservativ –, dass einige älteste Lebensformen fortdauern werden, wenn wir Menschen längst verschwunden sind.

So haben James Darling und Lesley Forwood in ihrer Videoinstallation Living Rocks – A Fragment of the Universe [10] bei der 58. Kunstbiennale in Venedig eine Landschaft voll felsartiger Thromboliten präsentiert. Thromboliten sind lebende Fossilien, die seit ca. drei Millionen Jahren existieren. Man bezeichnet sie auch als „lebende Steine“, weil sie in der Tat wie Steine aussehen. Es handelt sich jedoch nicht um Steine, sondern um lebende Organismen.

Sie waren seit jeher für die Aufladung unserer Atmosphäre mit Sauerstoff – und damit für die Ermöglichung allen höheren, also auch des menschlichen Lebens – verantwortlich.

Diese Thromboliten, so die Suggestion der Arbeit, werden auch nach dem Ende des Anthropozäns fortdauern – so wie sie schon viele andere Katastrophen überlebt haben. Das menschliche Zeitmaß hingegen ist von anderer Art. Es ist ganz natürlich, dass wir, die wir lange nach ihnen entstanden sind, lange vor ihnen verschwinden werden.

In eine ähnliche Richtung zielt die Theaterinstallation win > < win der Gruppe Rimini Protokoll, die 2017 – 18 im Rahmen der Ausstellung „After the End of the World“ [11, 12] in Barcelona gezeigt wurde. Sie macht deutlich, dass Quallen im Gegensatz zur Fragilität der menschlichen Existenz enorm robust sind. Quallen schweben seit mindestens 670 Millionen Jahren durch die Weltmeere, und fast alles, was dem heutigen Ökosystem schadet, scheint den Quallen gut zu tun: die Überfischung der Meere und der Plastikmüll reduzieren ihre Fressfeinde, und im wärmer werdenden Wasser blühen die Quallen geradezu auf, während viele Fische zugrundegehen.

Quallen, so suggeriert es diese zusammen mit Meeresbiologen entwickelte Installation, „werden die Letzten sein, die noch übrig sind, wenn alles andere zerfällt“.11 Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass manche der Lebewesen, die wir (anders als Quallen) kulturell aufs Höchste schätzen, unseren ärgsten zivilisatorischen Verwüstungen zu trotzen vermögen. So war in Hiroshima das erste neue Leben, das sich nach der nuklearen Katastrophe regte, ein Pilz – und nicht irgendeiner, sondern ein Matsutake, also einer der wertvollsten Speisepilze Asiens. Er wuchs auf den atomar verseuchten Trümmern der Stadt. Dieser Pilz ist auch darin besonders, dass er sich nicht züchten lässt, sondern nur wild wächst.12Nicht nur vergleichsweise primitive Lebewesen (wie Quallen), sondern auch solche, die sich kultureller Höchstschätzung erfreuen, vermögen offenbar, vom Ende unserer Kultur ganz unbetroffen, weiter zu existieren.

b) Neuartige Lebensformen

Eine zweite Option erwägt, das nach unserer Zeit ganz neue Lebensformen entstehen könnten, die an die Verhältnisse, durch die wir uns den Garaus gemacht haben, bestens angepasst sind. Manche KünstlerInnen machen sich daran, solche Geschöpfe zu imaginieren und zu visualisieren.

So zeigte Eva Papamargariti 2017 in einem Video mit dem Titel Precarious Inhabitants [13] neuartige Lebens formen, die dadurch entstehen, dass Fische oder Frösche Plastik aufnehmen und so zu Mutationen gelangen, welche die Plastikbestandteile buchstäblich inkorporieren.

Oder sie zeigte – als einen weiteren Ausblick in eine mögliche Zukunft – amorphe Zellflächen, die sich einer festen Formbildung und Identifikation entziehen.

Ähnlich und doch anders hat Diana Danelli in Memoria Botanica (2019) [14] eine interessante Transformation von Pflanzen erwogen. Pflanzen, meint sie, werden das Ende unserer Zivilisation gewiss überleben. Sie machen ohnehin gut 80 Prozent der Biomasse der Erde aus, und sie sind weitaus anpassungsfähiger als wir Menschen.

Ein besonders interessanter Punkt ist der folgende: Mit dem Menschen wird es nach dem Ende unserer Zivilisation gleichwohl nicht ganz vorbei sein. Wir werden zwar physisch nicht mehr existieren, aber einige Teile des menschlichen Genoms werden in der DNA von Pflanzen fortexistieren. Solche Integration (Endosymbiose) ist in der Evolution nichts Ungewöhnliches. So haben vor über 2 Milliarden Jahren manche Eukaryoten sauerstoffverbrauchende Bakterien in sich aufgenommen; dadurch entstanden die Mitochondrien, die noch heute das Energiekraftwerk einer jeden tierischen Zelle (also auch der menschlichen) darstellen. Und andere Eukaryoten haben sauerstoffproduzierende Bakterien (etwa Cyanobakterien) in sich aufgenommen und so die Basis für die spätere Pflanzenwelt geschaffen. Ähnlich, meint Danelli, könnten Pflanzen auch einige menschliche Gene aufnehmen und für ihre Zwecke fruchtbar machen.13 Blicken wir kurz zurück: Bei Max Ernst hatte die Vegetation nach dem Verschwinden des Menschen die Regie übernommen, ohne dass etwas vom Menschen weitergeführt worden wäre. Die menschliche Zivilisation zerfiel, und eine Vegetation, die mit dieser nichts zu tun hat, übernahm die Gestaltung der Erde. Das ist bei Diana Danelli anders. Der Mensch existiert weiter in Fragmenten, welche die Pflanzen sich einverleibt haben, und diese menschlichen Überbleibsel verhelfen den Pflanzen zu neuem Wachstum und Formenreichtum. Der Mensch lebt als Dienstleister der Pflanzenwelt fort.

Diese genetische Immigration des Menschen in das Genom mancher Pflanzen wird in Memoria Botanica durch die Integration eines höchstkulturellen Produkts anschaulich gemacht: eines Diagramms des I-Ging aus dem Besitz von Leibniz (dem großen Theoretiker der Kontinuität vom Kleinsten bis zum Größten) [15].

Die Striche der Hexagramme des I-Ging wirken, auf die Pflanzen projiziert, wie Genabschnitte. Vielleicht ist das naturwissenschaftlich fragwürdig. Aber es ist wunderschön und tröstlich. Etwas von der menschlichen Kultur lebt fort: als Stimulation für Pflanzen oder (Hegel hätte seine Freude daran gehabt) als ein Geistimpuls, der nun die vegetabilische Welt durchströmt. Am Ende waren wir Menschen also doch noch zu etwas nutz.

c) Anthropische Engführung in Film und Fernsehen

Blicken wir nun auf einen ganz anderen Sektor, die Filmindustrie. In etlichen Blockbustern und fiktionalen Dokumentationen wird gezeigt, wie es zu einem Ende der Menschheit kommen und was danach geschehen könnte.

Aber diese Fiktionen imaginieren das Verschwinden des Menschen recht ungenügend. Es soll entweder durch die Invasion von Außerirdischen oder durch ein tödliches Virus verursacht sein, oder man geht schlicht, ohne eine Ursache zu nennen, davon aus, dass plötzlich sämtliche Menschen von der Erde verschwunden sein werden. Hingegen wird viel zu wenig thematisiert, dass die Menschen deshalb verschwinden könnten, weil sie sich selber durch Naturzerstörung ihre Lebensgrundlagen abgegraben haben. Zudem hat man anscheinend nur daran Interesse, was nach der Katastrophe mit unseren schönen zivilisatorischen Artefakten geschehen wird: Wasserfluten brechen über New York herein, Straßen und Gleise werden von der Vegetation überwuchert, Tierhorden dringen in Städte ein.

Nach unserer Zeit könnten ganz neue Lebensformen entstehen, die an die Ver hältnisse, durch die wir uns den Garaus gemacht haben, bestens angepasst sind.

Das wird alles eindrucksvoll oder auch bombastisch in Szene gesetzt, jedoch leiden diese Inszenierungen allesamt an der anthropischen Krankheit. Sie kümmern sich nur darum, was mit unseren wunderbaren Errungenschaften geschieht, aber nicht darum, wie es jenseits unserer menschlichen Sorgen mit Erde und Natur weitergeht. Diesbezüglich sind sie, anders als die zuvor gezeigten Beispiele, allzu fantasielos.

d) Helmut Wimmer: The Last Day, 2018

Stattdessen will ich nun eine Fotoserie präsentieren, welche die Rückkehr der Natur in die Räume der Kultur weitaus intelligenter darstellt als jene Blockbuster. Ich beziehe mich auf zwölf fotografische Tableaus, die Helmut Wimmer 2018 / 19 unter dem Titel The Last Day [01, 16–18] im Kunsthistorischen Museum in Wien ausgestellt hat.

Auf diesen Tableaus sieht man etliche der vertrauten Säle des Wiener Kunsthistorischen Museums, aber etwas sehr Unvertrautes hat sich ereignet: Natur ist in die Säle eingedrungen.

In dem Saal mit Bruegels Jäger im Schnee haben sich Reisig und Schnee breit gemacht.

Oder Kraniche stolzieren durch andere Säle und konkurrieren in gravitätischer Haltung mit dem spanischen Infanten oder in pickender Pose mit dem Getümmel auf Schlachtenbildern.

Oder Felsen und Wassermassen brechen herein – aber die Museumsbesucher bemerken es nicht, sie betrachten weiterhin ungerührt nur die Gemälde oder sind (während ihre Füße längst im Wasser stehen) ganz in ihr Smartphone vertieft.

Und ein massiger Baumstrunk, etliche Äste und ein Teppich aus Laub bevölkern einen Museumsraum – aber der einsame Besucher bleibt, das Eindringen der Natur nicht gewahrend, in die Kontemplation eines Kunstwerks versunken.

Die Natur kehrt in die Gefilde der Kultur zurück, gar in einen Kunsttempel par excellence. Die dort seit Jahrhunderten hängenden Bilder haben vielfach von Natur gezehrt, und sie haben unsere Wahrnehmung von Natur geformt. Aber sie haben auch unserer Nichtwahrnehmung und unserem Übersehen Wege geebnet und manch kulturelle Blindheit begründet. Jetzt kehrt eine nicht domestizierte Natur zurück und dringt ungeniert in die heiligen Hallen der Kunst ein. Und die Menschen, diese Kulturwesen und Kunstverehrer, bemerken das nicht einmal. Wir sind bei aller Naturschätzung und Naturreflexion blind geworden für elementare Phänomene der Natur.

Das führt noch einmal zum Thema des Anthropozäns. Denn zu diesem gehört nicht nur – als Ursache – die menschliche Ausbeutung und Zerstörung der Natur. Zu ihm könnte – als Folge und definitiver Ausgang – auch gehören, dass die menschliche Kultur, weil sie der Signale der Natur noch immer nicht achtet, untergehen wird und dass stattdessen eine Natur, die sich in keiner Weise mehr um den Menschen kümmert, das weitere Schicksal dieses Planeten bestimmen wird.

e) Cosmo-Eggs – glücklicher Ausgang?

Es gibt aber auch (sanft) optimistischere Perspektiven. Vielleicht kratzen wir doch noch einmal die Kurve. Rückblicke in die Geschichte können dieser Hoffnung Auftrieb geben.

Das letzte Werk, das ich hier präsentiere, ist Cosmo-Eggs [19–21], die Ausstellung im Japanischen Pavillon bei der 58. Kunstbiennale in Venedig. Es handelt sich um die Gemeinschaftsarbeit eines Künstlers (Motoyuki Shitamichi), eines Anthropologen (Toshiaki Ishikura), eines Komponisten (Taro Yasuno) und eines Ausstellungsarchitekten (Fuminori Nousaku).

Ausgangspunkt waren sogenannte Tsunami-Felsen, wie sie sich auf manchen japanischen Inseln (und auch an anderen Orten Asiens) finden. Sie entstammen dem Meeresgrund und sind von Tsunamis, wie sie dort seit Jahrtausenden immer wieder vorkommen, an Land gespült worden. Diese Felsbrocken sind Attraktionen, zum Teil werden sie verehrt, und sie bieten Nistplätze für Vögel.

Motoyuki Shitamichi, der Künstler, war von diesen Felsen fasziniert und fragte sich, was sie uns über unsere Geschichte und Zukunft erzählen könnten. Er kontaktierte den Anthropologen Toshiaki Ishikura, und dieser machte sich daran, alte Mythen und Erzählungen zu studieren, die sich auf solche Tsunami-Felsen beziehen, und er kompilierte daraus eine eindrucksvolle Geschichte.

Der erste Teil, der die Ausgangssituation schildert, lautet: „Vor langer Zeit kamen Sonne und Mond auf die Erde und legten ein einziges Ei. Eine Schlange verschluckte das Ei. So besuchten Sonne und Mond die Erde noch einmal und hinterließen drei Eier, die sie versteckten: eines im Inneren der Erde, eines im Inneren des Steins und eines im Inneren des Bambus. Die Eier waren bald ausgebrütet und ihnen entschlüpften die Vorfahren von drei Inseln. Als sie erwachsen waren, bauten sie alle ein kleines Boot und fuhren zu verschiedenen Inseln: eine im Osten, eine im Westen und eine im Norden. Die Stämme dieser Inseln besuchten sich gegenseitig mit dem Boot, und trotz gelegentlicher Kämpfe überwanden sie Seuchen und schlechte Ernten und lebten lange Zeit in Frieden. Jede Insel überlieferte ihre eigene Sprache, ihre eigene Musik, ihre eigenen Traditionen, ihre eigenen Feste. Sie alle besaßen die Macht, mit den Tieren zu sprechen: Der Erdstamm sprach mit den Würmern und Insekten, der Steinstamm mit den Schlangen und der Bambusstamm mit den Vögeln.“14 Dann folgen drei untereinander ähnliche Geschichten, die, jeweils eine der drei Inseln betreffend, das nächste Stadium schildern. Ich zitiere stellvertretend die Geschehnisse auf der Steininsel: „Ein Jugendlicher schlief und sah in seinen Träumen, wie ein Schwarm weißer Vögel riesige Felsbrocken vom Himmel auf die Felder fallen ließ. Am nächsten Morgen fing er an der Küste einen Fisch, der die Sprache der Menschen kannte. Der Fisch flehte ihn an, ihn nicht zu essen, und so gab ihn der Junge dem Meer zurück. Aber der Vater, der den Jugendlichen beobachtet hatte, nahm den seltenen Fische an sich und beschloss, ihn (als eine Lektion für den Jungen) zu essen. Der Fisch schrie um Hilfe, und aus dem Meer erhob sich ein gewaltiger Tsunami. Wie ein Schwan, der seine Flügel ausbreitet, fegte der Tsunami über die Insel, und die riesige Welle verschlang alle Lebewesen. Er hinterließ mit Korallen bedeckte Felsbrocken, und die Tiere, die er ertränkt hatte, wurden zu Einsiedlerkrebsen. Der Junge jedoch war mit seiner Schwester auf den höchsten Berg der Insel geflohen, die beiden klammerten sich an einen Felsen und überlebten knapp. Sie konnten den Hunger überwinden, und Bruder und Schwester paarten sich und brachten neue Nachkommen zur Welt.“15

Es gab also eine Ausgangssituation, die zwar nicht einfachhin paradiesisch war, denn es kam auch zu Auseinandersetzungen und Missernten, aber die Menschen schafften es doch, mit den Schwierigkeiten zu Rande zu kommen und voll Respekt füreinander und gegenüber der Natur zu leben. Dann aber geschah ein Bruch, es kam zu einer Katastrophe. Die Fortexistenz der Menschen war extrem bedroht. Und diese Katastrophe war – wie heute im Anthropozän – nicht etwa von der Natur verursacht, sondern menschengemacht. Aber dann gelang es den Menschen doch noch einmal, der Katastrophe zu entkommen und zu einem neuen Gleichgewicht mit der Natur zu finden. „Koexistenz“ – des Menschen mit der Natur und der Menschen untereinander – ist der Schlüsselbegriff der Arbeit. Sie vermag uns (mit leisen Tönen) doch noch einmal etwas Hoffnung zu machen.

Ich wollte ein paar Beispiele vorstellen, wie KünstlerInnen ein Ende oder eine Überschreitung des Anthropozäns imaginieren. Es ging nicht um Elemente einer Theorie. Offen gestanden, wissen wir alle nicht, was die Zukunft bringen wird. Da sind wir allenfalls Expektanten, aber im Grunde Ignoranten. Die KünstlerInnen zeigen uns Möglichkeiten auf, sie schaffen Experimentierräume für Imagination und Reflexion. Kunst ist mit dem Möglichkeitssinn im Bunde. Was davon wirklich wirkt, liegt dann nicht an der Kunst, sondern an uns als politischen und agierenden Bürgern. Vielleicht bestehen wir den Test. Wenn aber nicht, so war das jedenfalls nicht die Schuld der Kunst.

ANMERKUNGEN
1 Denis Diderot, Artikel „Encyclopedia“ [1755], in: ders., Philosophische Schriften (Berlin: Aufbau-Verlag 1961), Bd. 1, 149 – 234, hier 186 f .
2 Denis Diderot, „D’Alemberts Traum“ [entst. 1769, publ. 1830], in: ders., Erzählungen und Gespräche (Leipzig: Dieterich 1953), 436 – 501, hier 446.
3 Ebd., 454.
4 Ebd., 446.
5 Ebd., 452.
6 Vgl. ausführlicher zur modernen Denkform und ihrer Überschreitung: Verf., Homo mundanus – Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne (Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2012, 2. Aufl. 2015) sowie Mensch und Welt – Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie (München: Beck 2012).
7 Der Begriff des „Anthropozäns“ ist gewiss nicht un problematisch. Gleichwohl verwende ich ihn hier so, wie er nun einmal im Umlauf ist. Vgl. zu einer kritischen Diskussion meinen Essay „Wohin treibt das Anthropozän?“, in: Wer sind wir? (Wien: new academic press 2019), 144 – 163.
8 Gottfried Benn, „Roman des Phänotyp“, in: ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 2 (Wiesbaden: Limes 1958), 152 – 204, hier 161 f.
9 Diese meine ästhetische Kritik wäre noch zu ergänzen durch die von Timothy Morton vorgebrachte Kritik, derzufolge das ökologische Denken noch immer auf der kategorialen Unterscheidung von Natur einerseits und Zivilisation andererseits basiert, die aber doch für das moderne Denken typisch und von daher für die Probleme, denen wir uns gegenübersehen, mitverantwortlich war (vgl. Timothy Morton, Ecology without Nature, 2007, und The Ecological Thought, 2010). Bereits in den 1970er Jahren hatte Robert Smithson festgestellt: „The ecology thing has a kind of religious, ethical undertone to it. It’s like the official religion now, but I think a lot of it is based on a kind of late nineteenth-century, puritanical view of nature. In the puritan ethic, there’s a tendency to put man outside nature, so that whatever he does is fundamentally unnatural and there’s no need to refer to nature anymore“ ( Robert Smithson, zit. nach: Calvin Tomkins, The Scene: Reports on Post-Modern Art, New York 1976, 144).
10 Vgl. die Vorstellungen des Extropianismus (Max More) und einer postbiologischen Evolution (Steven J. Dick).
11 https://www.rimini-protokoll. de / website / de / project / win-win.
12 Er ist darauf angewiesen, in Symbiose mit den Wurzeln diverser Baumarten zu gedeihen.
13 Gentechnisch hat eine solche Einfügung menschlicher Gene in das Genom von Pflanzen Eduardo Kac vorgemacht. Bei seinem Werk Edunia (2003 – 2009) implementierte er eigene Gene, die für die rote Farbe des Blutes verantwortlich sind, in das Genom einer Petunie, die nun, als pflanzmenschliches Hybrid, eine rote Äderung aufweist. Vgl. Verf., „Fluchtpunkt Natur – Zur ästhetischen Situation der Gegenwart“, in: ders., Ästhetische Welterfahrung – Zeitgenössische Kunst zwischen Natur und Kultur (München: Fink 2016), 35 – 48, hier 47.
14 Ausstellungskatalog Cosmo-Eggs (Tokyo: Case Publishing, 2019), 1 (Übersetzung W.W.).
15 Ebd.