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Relektüren · von Max Reinhardt · S. 376 - 377
Relektüren , 2016

Relektüren
Rainer Metzger
Folge 36

In letzter Zeit erzählen mehr oder weniger alle, die sich mit dem Berlin der Zwanziger beschäftigen, eine Geschichte nach, die Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch notiert: An einem späteren Abend im Februar 1926 war Kessler, Impresario, Diplomat und eine Art Faktotum der Bessergestellten, zu Karl Vollmoeller, dem Industriellen, Bühnenautor und reichen Erben, in dessen Wohnung am Pariser Platz geladen worden. Max Reinhardt, der Theatermann, war anwesend. Es lagerten allerlei Mädchen in diversen Stufen der Ausgezogenheit auf den Diwans; sie arbeiteten schlecht bezahlt im nah gelegenen Großen Schauspielhaus und waren zu allem bereit. Attraktion des Abends war Josephine Baker, auch sie hatte nichts gegen Nacktheit, und ebenso, abgesehen von einem „rosa Mullschurz“, tanzte sie nun vor den Herrschaften. Assistiert wurde ihr von Ruth Landshoff, der Nichte des Verlegers Samuel Fischer, die umso bekleideter war, denn sie hatte sich einen Smoking angelegt. Kessler, der homosexuelle Connaisseur, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und entwarf im Geiste sogleich ein Ballett, in dem er „die Baker“ als biblische Sulamith und „die Landshoff“ als König Salomo imaginierte.

Natürlich war das eine Privatveranstaltung, und ohne Kesslers Kolportage wäre sie es auch geblieben. Vor allem ist sie mehr als eine verklemmte Nummer fürs Nebenzimmer. Zur Altherrenobsession gesellt sich auf jeden Fall Ruth Landshoffs schillernde Sexualität. Neu ist auch die Begeisterung für jene Art von Fremdheit, die Josephine Baker verkörpert und in ihrer Exotik zwar auch den Rassismus bedient, aber sich darauf nicht reduzieren lässt. Im Gegenteil, Berlins Weltstadtkultur ist für den…


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