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Titel: Borderlines · von Martin Seidel · S. 38 - 39
Titel: Borderlines ,

Borderlines

Kunst – Nichtkunst – Nichtkunstkunst
herausgegeben von Martin Seidel

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es in der bildenden Kunst regelmäßig zu Entgrenzungen, zu Erweiterung der Gattungen, zum Ausstieg aus Bild und Skulptur und aus der Kunst. Joseph Beuys erweiterte den Kunstbegriff und ließ das Bildnerische ganz hinter sich. Christoph Schlingensief sah vor zwanzig Jahren „keine Trennung mehr zwischen Kunst und Politik, Politik und Leben, Leben und Kunst“ und befand: „Das gehört ab sofort alles zusammen.“ Tatsächlich prägen mittlerweile medial übergreifende Künste, Forschungsprojekte oder soziale und politische Praktiken, die manchmal kaum noch künstlerische Merkmale aufweisen, den Eindruck der Biennalen und anderer Kunstgroßveranstaltungen oft am Nachhaltigsten.

Die Unübersichtlichkeit der Grenzverläufe der Kunst ist durchaus zu begrüßen. Die vorliegende KUNSTFORUM-Ausgabe „Borderlines | Kunst – Nicht kunst – Nichtkunstkunst“ zieht keine verblassenden oder bereits verblassten Linien künstlerischer Spielfelder nach. Sie ist vielmehr ein Patchwork aus Bildern, Texten und Statements von Publizisten, bildenden Künstlern, Designern und Kuratoren, das diverse Grenzphänomene der Kunst mosaikartig zusammenbringt. So geht es um inter- und transmediale Vernetzungen der Künste, um Mixed und Expanded Media, um multimediale Installationen oder interdisziplinäre Kooperationen der Künste. Zur Diskussion stehen die neuen künstlerischen Avancen, Ästhetiken und Rezeptionsbedingungen der Comics und digitalen Games, die – wie die Textbeiträge von Stephan Schwingeler und Alexander Press zeigen – den alten High-Low-Antagonismus überspielen. Die sozialen Medien, über die Anika Meier schreibt, sind für Künstler sowohl als Medium wie auch als Message eine grenzgängerische Herausforderung.

Nichtkunst ist das Gegenteil von Kunst. Als „Nichtkunstkunst“ ist sie aber auch eine Spielart der Kunst; sie verzichtet zwar auf spezifische künstlerische Ausdrucksweisen, bedient sich aber der Infrastrukturen der Kunstkontexte und genießt auch die rechtlichen, wirtschaftlichen und wahrnehmungspsychologischen Sonderkonditionen der Kunst.

Umwelt-, wirtschafts- und gesellschafts politische Aktionen, Aufklärungs- und Protestformen, die in den Beiträgen von Martin Seidel und Gesa Ziemer zur Sprache kommen, sind aus dem aktuellen Kunstgeschehen nicht wegzudenken. Grundsätzlich ist das erfreulich. Im Einzelfall nur bleibt zu prüfen, ob die jeweiligen Projekte über jene konzeptuellen Tiefen und Wirkungspotentiale verfügen, die sie von nichtkünstlerischen Formen des Engagements unterscheiden und sie legitimieren.

Ein kritischer Relativismus stößt immer an Grenzen der Entgrenzung. Auch Jakob Steinbrenner hält in seinem Diskurs zu Kunst, Kunsthandwerk und Design an grundsätzlichen Differenzen fest. Gleichwohl entwickeln Werbung, Mode oder Sport – nicht selten ohne bewusst darauf abzuzielen – immer wieder künstlerische Qualitäten. Die werden als solche meist nicht wahrgenommen, weil kategoriale Unterscheidungen zwischen Kunst und Nichtkunst vielfach nicht auf einer vorurteilsfreien Betrachtung der Phänomene selbst basieren, sondern auf tradierten Wertvorstellungen und Wertsystemen oder – wie der Beitrag von Heinz Schütz deutlich macht – auf institutionellen (musealen) Framings.

„Borderlines | Kunst – Nichtkunst – Nichtkunstkunst“ hat einen anthologischen und pluralistischen Charakter. Der Band ist in der Absicht konzipiert, Grenzphänomene zu benennen und dazugehörige Fragen zu formulieren – nicht um pauschale Antworten zu geben, sondern um das weite Spektrum der Fragen rund um die Entgrenzungen der Kunst und Künste eher noch weiter werden zu lassen. Das läuft schlussendlich nicht auf die Frage hinaus, was und was nicht Kunst ist, als vielmehr auf die Frage nach den künstlerischen und nichtkünstlerischen Qualitäten von Phänomenen, die als Kunst oder auch als Nichtkunst qualifiziert werden.