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Titel: Borderlines · von Martin Seidel · S. 40 - 59
Titel: Borderlines ,

Borderlines
Kunst – Nichtkunst – Nichtkunstkunst

von Martin Seidel

 

I. SYSTEME UND SYSTEMZWÄNGE, URTEILE UND VORURTEILE

Lars van Triers experimentierfreudiger und gattungssprengender Spielfilm Dogville aus dem Jahr 2003 hat ein theaterhaftes Setting, das die Straßen und Häuser des Handlungsortes, des Dorfes Dogville, nur durch Bodenlinien und einige reduzierte Einrichtungsgegenstände andeutet. Die Abstraktheit der Ausstattung erzeugt eine minimalistisch ansprechende Aura, die Brücken von der darstellenden zur bildenden Kunst schlägt. Die konzeptkünstlerische Künstlichkeit der Szenerie ist so evident, dass man sich sicherlich schnell auf breiter Ebene darauf verständigen kann, dass das Ganze auch etwas mit bildender Kunst zu tun hat.

Eigentlich müsste man sich ebenso darauf verständigen können, dass anderes, was aus unterschiedlichen Gründen nicht als Kunst firmiert, Kunst zumindest sein könnte – wie zum Beispiel die mit einer minimalistischen Bodenzeichnung aus gelber Linie abgegrenzten Raucherbereiche an Bahnhöfen. Die äußerlichen Analogien zu Konzeptkunst oder Land Art, die mit Steinen oder Kreiden Linien ziehen, bleiben ohne Aussagekraft. Künstlerisch interessant ist aber das System, das mit einer minimalistischen Bodenzeichnung aus der Fläche und ihren Nutzern einen dreidimensionalen fiktiven Raum bildet, der seinen Zweck, die Nichtraucher außerhalb der Begrenzung vor Rauch zu schützen, nicht wirklich erfüllt. Das ist unfreiwillig komisch. Wäre ein Künstler am Werk gewesen: Man würde das Ganze nicht als unfreiwillig komisch, sondern im Kunsthistorikeridiom als hintersinnig, anarchisch aufmüpfig und genial verschroben bezeichnen. Man würde unter dem Blickwinkel, dass es von einem Künstler stammt und von daher Kunst sein müsse, die Raucherzone mit ihrer angedeuteten Abgrenzung als ein System lesen, das eine abstrakte Ordnung schafft…

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