Amine Haase
Das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren
Die Linie denkt: Was Wirklichkeit in der zeitgenössischen Zeichnung bedeuten kann
Wenn Leonardo da Vinci Wasser und Luft zeichnete, Strudel und Wolken, dann wirkt das auf den Betrachter von heute wie die reine Abstraktion. Aber es sind Darstellungen der Wirklichkeit – bis an die Grenzen des Nichts. Schauen wir uns abstrakte Zeichnungen an, die im zwanzigsten, einundzwanzigsten Jahrhundert entstanden sind, dann fragen wir vielleicht auch nach dem Wirklichkeits-Gehalt. Welche Wirklichkeit enthalten die Notationen von Cy Twombly, welche die puren Linien von Linda Karshan, welche das horror-vacui-Geflecht von Lucie Beppler? Und die Wirklichkeit, die scheinbar so leicht zu entziffern ist in Zeichnungen von Rosemarie Trockel und Horst Münch, von Leiko Ikemura und Siegfried Anzinger, öffnet sie sich nicht auf Unsichtbares hinter dem Sichtbaren? Die Papierarbeiten von Jürgen Partenheimer halten diesen Schwebezustand des Zeichners fest, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen nüchternem Protokoll und poetischer Umschreibung. Die wenigen Namens-Beispiele deuten an, wo die Grenze in diesem Beitrag zum Thema Zeichnung verlaufen soll: zwischen den Wirklichkeiten des Wieder-Erkennbaren und denen, die auf der anderen Seite des Spiegels liegen. Dorthin nehmen uns die Zeichner mit und lassen uns in ihre Welt schauen. Und oft finden wir dort unsere eigenen Gedanken, Hoffnungen, Alpträume wieder.
Am Anfang steht die Realität. Aber auch die wiedererkennbaren Wirklichkeiten auf den Blättern eines Karl Bohrmann, einer Inge Schmidt oder einer Marie-Luise Lebschik weisen über das Sichtbare hinaus, lassen Befindlichkeiten, Stimmungen erkennen und zeigen so dem Gegenüber nicht allein das, was er sieht, sondern was er sehen…