Matthias Bleyl
Zeichnung – Was ist das eigentlich?
Oder: Warum die Linie nicht wesentlich ist
Wenn die Frage danach gestellt wird, was Zeichnung sei, so scheint eine befriedigende Antwort angesichts der schier unendlichen Möglichkeiten, die sich in diesem Medium eröffnen, ausgeschlossen. Dennoch kann man sicher sein, dass jeder eine spontane Meinung dazu hat und mit hoher Wahrscheinlichkeit Zeichnung mit dem Gebrauch der Linie gleichsetzen wird, besonders auch um sie von den Eigenarten anderer Medien zu unterscheiden. Wollte man eine Umfrage hierzu durchführen, so dürfte man dieses Konsenses bei Laien wie Profis gewiss sein. Auch zahlreiche Publikationen, seien es allgemeinbildende Lexika oder spezifische Ausstellungskataloge und Monographien zum Thema Zeichnung, setzen das entweder voraus oder erklären es programmatisch, und auch Standardwerke von Spezialisten untermauern es. Hier seien nur wenige prominente Beispiele von vielen herausgegriffen. Joseph Meder schrieb über die Entstehung der Zeichnung als einer früh gefundenen Möglichkeit, die Gegenstände „mittels einfacher Konturen sichtbar auszudrücken“1 und bemühte auch sonst gern den Begriff des Umrisses, was eine lineare Definition voraussetzt. Noch deutlicher heißt es dann: „Ihrem Wesen nach soll eine Zeichnung r e i n z e i c h n e r i s c h sein, d.h. den Charakter graphischer Mittel an sich tragen, von linear abgekürzten oder unvollendetem Gepräge, das nur das Wesentliche an Form und Flächen wiedergibt und dennoch die Impression des Ganzen erzeugt.“ 2 Auch wenn sich hierin sehr deutlich der Zeitgenosse impressionistischer Kunst zu erkennen gibt, galt ihm doch sicher die von den gängigen Zeichenmitteln gezogene Linie als das…