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Titel: Im Netz der Systeme · S. 232 - 239
Titel: Im Netz der Systeme , 1989

Lynn Hershman
Die Fantasie außer Kontrolle

THE FANTASY BEYOND CONTROL

Vielleicht war es nur die Nostalgie, die mich dazu gebracht hat, eine interaktive Video-Fantasie zu suchen; ein Verlangen nach Kontrolle, Steuerung, nach Lebensnähe, ein Zug auf direkte Aktion hin. Zweifellos war mein Wunsch, die Leere anzufüllen, akut. Dieser totale, kumulative und chronische Zustand ist vermutlich ein Nebeneffekt (oder für Videokünstler ein Berufsrisiko) von zu vielem Fernsehen. Fernsehen ist von Natur aus ein fragmentarisches und inkomplettes Medium, distanziert und unbefriedigend, wie platonischer Sex. So ist eine der Vorbedingungen des Video-Dialogs, daß er nicht antwortet. Er existiert nur als bewegtes statisches Element, als einseitiger Diskurses der – wie ein Trickspiegel – absorbiert, statt zu reflektieren.

Mein Weg zu interaktiven Arbeiten begann unter der Tarnkappe der Performance. 1971 wurde eine zweite Identität als ROBERTA BREITMORE geschaffen, die eine atmende, simulierte Person war und zuerst von mir, später von einer Serie von “Multipla” gespielt wurde. ROBERTA existierte im wirklichen Leben und in der wirklichen Zeit. Während des Jahrzehnts ihrer Aktivität wurde sie in viele Abenteuer verstrickt: Jedes davon war eine symbolische Reflexion der Gesellschaft, deren Teil sie war. Als Beispiel sei angeführt, daß sie ein Bankscheckkonto eröffnete und den Führerschein beantragte. Sie besuchte wöchentlich den Psychiater und hielt ihre “gefälschte Geschichte” ebenso aufrecht wie ihre vorgegebene Sprache, Gestik, Stimmodalation und Körperhaltung. Ihre echte Identität, der Beweis ihrer realen Existenz, wurde vom Bankkonto und von den Berichten des Psychiaters erbracht. Indem sie Artefakte der Kultur ansammelte und direkt mit dem Leben interagierte, wurde ROBERTA ein Zweiweg-Spiegel, der kulturelle…


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