Heinz Gappmayr
Formen des Konstruktiven
Werke der Bildenden Kunst, der Musik, Literatur und Architektur früherer Jahrhunderte werden als Dokumente der Zeit, als Relikte einer bestimmten Kultur und Monumente des Vergangenen betrachtet. Für diese Auffassung steht Hegels bekanntes Wort von der Geschichte als einer “Schädelstätte des Geistes”. Unterschieden wird zwischen lebenden und toten Epochen, zwischen Auf- und Untergang von Ländern und Völkern. Die Vorstellung linearer geschichtlicher Abläufe mit Beginn, Höhepunkt und Verfall, analog zu biologischen Prozessen, ist ideologisch fixiert. Sie sieht in dieser Ausschließlichkeit von allen entgegengesetzten und fremden Aspekten ab. Das Geistige wird unbefragt der Natur gleichgesetzt. Zur Kennzeichnung einer Epoche genügt ein einziger modifizierter Begriff.
Stil bedeutet in diesem Zusammenhang die Identifikation formaler Details, ohne Rücksicht auf die Unterschiede zwischen den Werken der gleichen Zeit. Was hat Dürer mit Cranach gemeinsam oder Monet mit Renoir? Oft gibt es zwischen Künstlern aus verschiedenen Epochen mehr Ähnlichkeit als zwischen ihnen und ihren Zeitgenossen. Zu Dogmen erstarrte, unkritische Beschreibungen der Wirklichkeit versuchen, die Differenziertheit des Sichtbaren auf vorgefaßte Meinungen zu reduzieren.
Die Bedeutung konstruktivistischer Kunst wird erst erkennbar, wenn man sie außerhalb jener temporären Abgrenzung und stilistischen Zugehörigkeit stellt, die sie nur als eine der bekannten Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts erscheinen lassen. Zukunft und Möglichkeiten des Konstruktivismus beruhen auf der Priorität des Objektiven und der Logik, nicht auf stilistischer Übereinstimmung. Diese birgt in sich die Gefahr akademischer Erstarrung. Die theoretischen Voraussetzungen konstruktivistischer Kunst gehören zu den Grundlagen der Philosophie. Ihre allgemeine Gültigkeit ist unvereinbar mit der Absicht, reduktive Kunst in eine Geheimlehre zu verwandeln. Die…