Judith Butler
Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben
Ein Gespräch von The Collective Eye
Die 1956 in Cleveland geborene Philosophin Judith Butler, seit 1993 Professorin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley, prägt mit ihren Arbeiten zur feministischen Theorie, insbesondere mit ihrer vor dreißig Jahren erschienenen Schrift „Das Unbehagen der Geschlechter“ die Diskussionen um die Queer-Theorie. Ihrem performativen Modell von „Geschlecht“ zufolge sind die Geschlechtskategorien „männlich“ und „weiblich“ keine Naturgegebenheiten, vielmehr soziale, durch Sprechakte verdingte Konstrukte. Über Geschlechterforschung hinaus hat Butler sich in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ (2020) auch mit Fragen des Zusammenlebens befasst. Darin argumentiert sie, dass unsere Zeit, womöglich sogar alle Zeiten, eine völlig neue Art des Zusammenlebens der Menschen in der Welt erfordern, – eine Welt, die Butler „radikale Gleichheit“ nennt.
The Collective Eye: Die Hoffnung auf eine Gesellschaft, die stärker auf ein kollektives Miteinander ausgerichtet ist, wie Sie es in Ihren Schriften entwickeln, steht im Gegensatz zu dem, was ich als die Atomisierung des Ich bezeichnen würde. Dabei denke ich an Jean-Paul Sartre, der in „Kritik der dialektischen Vernunft“ analysiert hat, wie sich diese Atomisierung vollzieht. Bei der Lektüre des 1960 veröffentlichten Text war ich erstaunt, wie allumfassend sich heutige Formen der Atomisierung mithilfe seiner Analyse begreifen lassen. Der Geist des neuen Kapitalismus suggeriert uns, Teil sozialer, weltumspannender Netzwerke. Dabei werden wir, ohne es zu merken, via Internet totalatomisiert.
Judith Butler: Das ist eine gute und zeitgemäße Frage. Über die Atomisierung zu sprechen, ist ein soziologischer Trend. Es stellt sich die Frage: Was ist die…