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Titel: All together now! Kunst im Kollektiv - Kapitel 2 — Die Verflochtenheit aller Leben · von The Collective Eye · S. 62 - 71
Titel: All together now! Kunst im Kollektiv - Kapitel 2 — Die Verflochtenheit aller Leben ,
Titel: All together now! Kunst im Kollektiv - Kapitel 2 — Die Verflochtenheit aller Leben

Judith Butler

Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben
Ein Gespräch von The Collective Eye

Die 1956 in Cleveland geborene Philosophin Judith Butler, seit 1993 Professorin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley, prägt mit ihren Arbeiten zur feministischen Theorie, insbesondere mit ihrer vor dreißig Jahren erschienenen Schrift „Das Unbehagen der Geschlechter“ die Diskussionen um die Queer-Theorie. Ihrem performativen Modell von „Geschlecht“ zufolge sind die Geschlechtskategorien „männlich“ und „weiblich“ keine Naturgegebenheiten, vielmehr soziale, durch Sprechakte verdingte Konstrukte. Über Geschlechterforschung hinaus hat Butler sich in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ (2020) auch mit Fragen des Zusammenlebens befasst. Darin argumentiert sie, dass unsere Zeit, womöglich sogar alle Zeiten, eine völlig neue Art des Zusammenlebens der Menschen in der Welt erfordern, – eine Welt, die Butler „radikale Gleichheit“ nennt.

The Collective Eye: Die Hoffnung auf eine Gesellschaft, die stärker auf ein kollektives Miteinander ausgerichtet ist, wie Sie es in Ihren Schriften entwickeln, steht im Gegensatz zu dem, was ich als die Atomisierung des Ich bezeichnen würde. Dabei denke ich an Jean-Paul Sartre, der in „Kritik der dialektischen Vernunft“ analysiert hat, wie sich diese Atomisierung vollzieht. Bei der Lektüre des 1960 veröffentlichten Text war ich erstaunt, wie allumfassend sich heutige Formen der Atomisierung mithilfe seiner Analyse begreifen lassen. Der Geist des neuen Kapitalismus suggeriert uns, Teil sozialer, weltumspannender Netzwerke. Dabei werden wir, ohne es zu merken, via Internet totalatomisiert.

Judith Butler: Das ist eine gute und zeitgemäße Frage. Über die Atomisierung zu sprechen, ist ein soziologischer Trend. Es stellt sich die Frage: Was ist die Natur dieser atomaren Einheit? Es gibt eine Geschichte des Individualismus, die wir aus der Geschichte des Kapitalismus kennen. Von Max Weber ebenso wie von C. B. Macpherson aus seinem Buch „The Political Theory of Possessive Individualism“. Wir kennen sie von Wirtschaftshistorikern des Kapitalismus, die sich mit der Geschichte des konsumierenden, eigennützigen Individuums auseinandergesetzt haben. Was ist das Besondere an dieser Form des Individualismus? Wenn es eine einzelne Form ist, ist sie historisch geformt und gesellschaftlich geteilt.

Das ist der erste Widerspruch. Was bedeutet es, über Individualität als eine gesellschaftliche Form nachzudenken? Viele halten dem entgegen, das Individuum sei noch nicht sozial. Es stehe außerhalb des Sozialen oder warte darauf, in das Soziale integriert zu werden. Tatsächlich ist die Form des eigennützigen oder Besitz-Individualismus eine historische Norm, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet, unser individuelles Leben gestaltet und sogar dazu beigetragen hat, unsere Wünsche und Gefühle dafür zu formen, wer wir als Individuen sind. Wir sind soziale Wesen sogar in dem Moment, da wir unsere Individualität behaupten, den Individualismus als Philosophie und die persönliche Freiheit verteidigen und das Individuum als die primäre Einheit der Gesellschaft betrachten, wie es Libertäre gerne tun. Man wird atomisiert.

Ich versuche zu leben, doch da sind die Strukturen der Welt, die es mir unmöglich machen, auf richtige Weise zu leben.

Atomisierung ist ein interessanter Begriff, insofern es sich um das Resultat eines sozialen und historischen Prozesses handelt, der die gesellschaftliche Form des Individuums reproduziert und verkündet hat, das Individuum sei die primäre Einheit des sozialen Lebens. Wir glauben an die Leistungsgesellschaft und die Leistung des Individuums. Diese geformten Denkweisen besagen, dass das Individuum als primäre Einheit die Basis der Gesellschaft oder der Anfang der Geschichte ist. In Wirklichkeit ist das Individuum eine soziale Form, also bereits geformt. Doch diese Formation wird geleugnet, um mit dem Individuum als Grundlage der Gesellschaft zu beginnen oder um den methodologischen Individualismus als den richtigen Weg zu etablieren, die Gesellschaft, Wirtschaft und die Geschichte zu betrachten.

Wir erinnern uns an die ironischen Gedanken von Karl Marx zu Robinson Crusoe in den „Manuskripten“ von 1844: In welcher Welt wird diese imaginäre Szene als der Ursprung akzeptiert? Wie treten wir in den Gesellschaftsvertrag ein, wenn am Anfang das Individuum steht, das auf die eine oder andere Weise in die Gesellschaft und den Markt einsteigt, wovon die klassische, liberale Philosophie oft, nicht immer ausgeht.

Die Betonung des Individualismus in westlichen Gesellschaften korreliert mit der Vereinzelung.

Ja, wir gehören zur Gesellschaft, weil wir mit der Idee der Individualität konform sind, und wir sind gleichzeitig von ihr getrennt und leiden darunter, dass die sozialen Beziehungen, die wir zum Leben brauchen, die uns definieren und erlauben, unsere soziale Existenz zu erkennen und darin zu bestehen, durch eben diesen Individualismus verweigert werden. Dieser macht uns zu einem Teil der individualistischen und kapitalistischen Gesellschaft. Im marxistischen Sinne handelt es sich um einen Widerspruch, der in ein Leiden gipfelt, das wir durch neue Formen der Kollektivität und neue Wege des Verständnisses unserer sozialen Beziehungen als konstitutiv für unser Internet- und Arbeits- oder für unser körperliches Leben im Allgemeinen zu überwinden hoffen.

Was hat der Prozess der Atomisierung mit dem Kapitalismus zu tun?

Normalerwiese arbeite ich nicht mit dem Begriff der Atomisierung, obwohl er interessant ist. Es macht einen Unterschied, ob wir über Individuen als Eigentümer, als Konsumenten oder als Egoisten sprechen, die versuchen, ihr Vergnügen zu maximieren und eine instrumentelle Beziehung zu anderen Menschen, zur Natur oder zu uns selbst aufrechtzuerhalten. Es ist also wichtig und notwendig, zwischen den Formen der Atomisierung und der Geschichte des Kapitalismus zu unterscheiden. Da diese sich gewandelt hat, könnten wir fragen, wie die Atomisierung im Neoliberalismus funktioniert. Ebenso, was die Familienstruktur oder die Freundschaft in Bezug auf die Atomisierung bedeuten. Wir können auch über den Kampf um den Erhalt der Gewerkschaften und der sozialistischen Ideale in unserer Zeit des Neoliberalismus nachdenken. Einige, die sich mit der neoliberalen Subjektivität beschäftigen, schlagen vor, es gehe um mein soziales Kapital, meine Marke und darum, ein Unternehmer zu werden, und nicht um die Maximierung meiner Wünsche oder Interessen. Das Individuum ist eines, das improvisieren muss, weil es aufgrund der Dezimierung sozialer Dienste und stabiler Arbeitsumgebungen und aufgrund der Intensivierung der prekären Arbeit keine soziale Unterstützung durch die Gemeinschaft erhält.

In vielen Teilen der Welt herrschen große Angst und das tiefe Gefühl einer ungerechtfertigten Verwundbarkeit oder Gewaltanwendung, wenn es darum geht, das Grundrecht auszuüben, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.

Auf uns selbst gestellt, versuchen wir herauszufinden, wie wir diesen Job bekommen oder unsere eigenen Fähigkeiten verkaufen, wie wir sozialen Wert durch soziale Medien oder auf andere Weise erreichen, damit wir unsere Chancen auf bezahlte Arbeit inmitten eines unsicheren Arbeitsmarktes maximieren, der zunehmend mit prekären Arbeitnehmern gefüllt ist. Wir müssen darüber nachdenken, wie diese Paradigmenwechsel funktionieren, und verstehen, dass es neue Formen der Atomisierung gibt, die durch die Dezimierung des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste oder, in Lateinamerika, durch die Zerstörung der Umwelt und der Stammesgebiete entstehen, wobei Menschen plötzlich verstreut werden, die, zuvor in Gemeinschaften lebend, davon abhängig waren, dass die Erde eine intakte und nicht vergiftete Umwelt für das menschliche Leben und die biologische Vielfalt im weiteren Sinne ist. Es gibt verschiedene Arten der Atomisierung, und ich bin mir nicht sicher, ob wir eine philosophische Erklärung anbieten können, die auf alle Fälle zutrifft. Wir müssen zulassen, dass unsere philosophischen Erklärungen von diesen verschiedenen Geschichten beeinflusst werden.

Das Wahre ist leben in gegenseitiger Abhängigkeit

Kann es überhaupt authentische Beziehungen geben?

Ich bin nicht gegen die Idee authentischer Beziehungen und glaube, dass es bessere Wege des Zusammenlebens gibt. Der einzige Grund, warum ich zögere, den Begriff „Authentizität“ zu verwenden, ist der, dass ich nicht möchte, dass es heißt, die Gemeinschaft, der ich angehöre, sei nicht authentisch, weil jemand anders einer Gemeinschaft angehört, die von sich behauptet, ebenfalls authentisch zu sein. Denn das kann zu einer Hierarchie, einer Form der Degradierung oder gar Ausgrenzung führen. Besser wäre es, für eine Vielzahl verschiedener Gemeinschaftsformationen und Netzwerke offen zu sein, die das Leben aufrechterhalten, sich für Gleichheit einsetzen und versuchen, in ihrem täglichen Leben Gerechtigkeit walten zu lassen, von denen wir aber nicht immer wissen, welche Form sie annehmen. Behaupte ich, wenn vor mir, hier mit meiner Vorstellung von der authentischen Form sitzend, etwas Neues auftaucht, das sei nicht authentisch, oder öffne ich meine Kategorien? Vielleicht bedarf es einer ethischen Orientierung, die offen ist für eine mögliche Vielfalt verschiedener Lebensweisen. Zu oft wird Authentizität als ausgrenzendes Urteil verwendet, das ein einziges Modell hochhält und priorisiert. Vielleicht gibt es andere Wege, Authentizität zu denken. Das ist leider nicht immer gut gegangen.

Was waren die Beweggründe für Ihr Buch über Gewaltlosigkeit auch in Bezug auf Ihren Begriff der radikalen Gleichheit?

Es gab mehrere Beweggründe. Einer war eine Polizeiaktion gegen protestierende Studierende an der University of California in Berkeley, die ein Schuldenkollektiv gebildet hatten und sich gegen die erneute Anhebung der Studiengebühren wehrten. Bei uns wird die Hochschulbildung nicht als ein öffentliches Gut betrachtet. Wir verfügen zwar über öffentliche Universitäten, die aber privatisiert wurden. Und das Versprechen der öffentlichen Universität, für alle Studierenden in diesem Staat erschwinglich und zugänglich zu sein, wurde mehrfach gebrochen und die Studiengebühren immer wieder angehoben. Wenn diese auch nicht ganz so hoch sind wie an den meisten privaten Eliteuniversitäten, so ist doch für viele der Besuch einer Universität unmöglich geworden. Diejenigen, die es sich nicht leisten können, gehen auf andere Colleges. Als die graduierten Studierende gegen diese Zustände in den Streik gingen und gewaltlos protestierten, wurden sie von der Polizei aufgefordert, den Campus zu verlassen. Aber die Universität ist eine öffentliche Universität. Wem gehört sie also? Die Studierenden bildeten eine menschliche Schutzbarriere und verschränkten die Arme. Um sie herauszuziehen, musste die Polizei diese Kette durchbrechen. Die Studierenden wurden von ihr angegriffen, an den Haaren gezogen, auf den Boden geschlagen, verletzt und hinter Gittern gebracht. Gerechtfertigt wurde die Gewalt mit Notwehr. Dieses brutale Vorgehen und die Behauptung angeblicher Notwehr kennen wir aus der Geschichte der rassistischen Polizeiarbeit in den Vereinigten Staaten, aus dem Rodney-King- und dem Prozess gegen Eric Garner.

Schon oft mussten wir erleben, dass ein wehrlos am Boden Liegender blutig geschlagen und dies mit der Lüge von der Bedrohung für das Leben der Polizei begründet wurde. Das hat mich alarmiert. Ich habe die Studierenden verteidigt, Artikel geschrieben. Schon früher hatte ich mich mit diesem Thema beschäftigt, weil man in diesem Land vor Gericht dazu neigt, die Opfer, vor allem wenn sie schwarz oder braun sind, als Aggressoren hinzustellen, und weil ich verstehen wollte, warum Menschen, die sich an gewaltfreien Protesten beteiligen, fälschlicherweise Gewalt unterstellt wird. Außerdem wollte ich die Wichtigkeit gewaltfreier Proteste begreifen, nicht nur im Kampf gegen Studiengebühren und die Neoliberalisierung der Universitäten, sondern auch im Kampf gegen Krieg, rassistische, polizeiliche und staatliche und Gewalt gegen Frauen, queere, nichtgeschlechtskonforme und transsexuelle Menschen, sowohl in Lateinamerika als auch in den USA und Europa. Was bedeutet die Beteiligung an solchen gewaltfreien Protesten? Dabei ging es nicht nur darum, eine Ungerechtigkeit aufzudecken und ihr Ende zu fordern. Die Gemeinschaften, die sich dabei bilden, sind natürlich Beispiele für ein Leben in gegenseitiger Abhängigkeit. Bei den Occupy Wall Street- oder Timing Square Protesten in New York nach dem Tod von George Floyd in Minneapolis, ebenso nach den Aufständen in der muslimischen Welt vor einem Jahrzehnt waren die Menschen auf der Straße. Auch die Protestaktionen gegen Zwangsräumungen in Spanien sind eine wichtige soziale Bewegung.

Die Menschen geben sich gegenseitig Schutz, wechseln sich ab. Jeder erfüllt seine Aufgabe. Einer protestiert, während ein anderer dafür sorgt, dass die Toiletten funktionieren. Ein anderer, der aus körperlichen oder gesundheitlichen Gründen nicht auf die Straße kann, kümmert sich um die sozialen Medien.

Dies sind Lebensweisen, die sich gegen die Systeme des Kapitalismus, der rassistischen, sexuellen und Gender-Gewalt richten. Proteste, Demonstrationen und Versammlungen dieser Art dienen dazu, Ideale der Demokratie und Solidarität zu verwirklichen, und helfen dabei, darüber nachzudenken, in welcher Art von Welt wir leben wollen. Sie können diese andere Vision hervorbringen und uns daran erinnern, worauf wir in dieser Welt hinarbeiten müssen.

Das klingt so, als wäre dieser gewaltlose Protest die Antizipation einer anderen Gemeinschaft? Laut Adorno „gibt (es) kein richtiges Leben im falschen.“

Die diesem Satz innewohnende Frage ist enorm wichtig. Sie betrifft uns alle, oder? Denn ich versuche zu leben, doch da sind die Strukturen der Welt, die es mir unmöglich machen, auf richtige Weise zu leben. Wie können wir das verhandeln? Viele Menschen versuchen es. Adorno benennt das Problem gut, aber, wie wir wissen, neigte er dazu, die antikapitalistischen und antihierarchischen Student*innenproteste abzutun, er mochte die Proteste gegen ihn als Kulturkonservativen nicht. Ich denke, wir müssen uns die Proteste genauer anschauen, um nicht nur zu verstehen, um was für eine Art von Versammlung es sich dabei handelt, wer da zusammenkommt, ob es neue Allianzen oder Koalitionen sind, sondern auch, welche Art von Welt von ihnen imaginiert oder inszeniert wird. Ich widerspreche Adorno, weil ich in den Koalitionspraktiken des Protests und der Versammlung mehr Hoffnung sehe, als er es zu seiner Zeit konnte.

Was Sie über die Dynamik oder Performativität von Protest sagen, bringt uns zu der Frage, wie wir diese Aggression und Gewalt überwinden.

Vielleicht lohnt es sich in dem Zusammenhang, ein wenig über die Black Lives-Bewegung und die Proteste auf den Straßen nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in der ganzen Welt nachzudenken. Das Überraschende war nicht nur die riesige Zahl von Schwarzen, die auf der Straße gegen Polizeigewalt protestierten. Bemerkenswert war auch, dass sich alle möglichen Gruppen daran beteiligten. Es ging also nicht um Identitätspolitik im engeren Sinne. Es war nicht voraussehbar, dass sich eine solche Bandbreite an Menschen versammeln würde. Nicht nur Schwarze auch viele Weiße. Junge wie alte, gleich welcher Hautfarbe. Muslime, die unter Islamophobie leiden. Ein so breites wie unerwartetes Spektrum von Menschen, darunter Marxisten und Sozialisten diversester Prägung. Sie alle kamen mit ihren eigenen Erfahrungen und ihrer eigenen Geschichte. Es bedurfte keiner persönlichen Erfahrung mit Polizeigewalt, die viele indigene, braune und Menschen, ursprünglich aus Lateinamerika oder Nordafrika, hier machen. Weil ich beeinträchtigt bin, konnte ich selbst nicht auf die Straße.

Wir wollen gewaltfreie Formen der Selbstverwaltung und in einer Welt leben, in der wir auf eine bestimmte Art gewaltfreier Behandlung vertrauen können.

Die Frage, was dort mitschwang, lässt sich bezogen auf die Occupy Wall Street-Bewegung und einige antifaschistische Demonstrationen in Deutschland und anderen Teilen Europas beziehen. Wer kommt und aus welcher Motivation? Wer unterstützt sie und warum? Vor den letzten Präsidentschaftswahlen in Frankreich haben wir beobachtet, welche Empörung Éric Justin Léon Zemmour mit seiner Präsidentschaftskandidatur ausgelöst hat. In den Vereinigten Staaten ist die kollektive Trauer um Schwarze groß, die durch Polizeigewalt getötet wurden. Indem sie trauerten, bestanden sie auf einer öffentlichen Anerkennung dieses Verlustes und darauf, dass diese Leben wertvoll waren, obwohl die Polizei sie für völlig wertlos erachten. Sie äußerten ihre Wut darüber und forderten Gerechtigkeit. Was sich da auf den Straßen ausdrückt, ist ein enormes Gefühl der Verwundbarkeit. Ihr Leben könnte ihnen weggenommen werden, wenn sie der Polizei gegenüberstehen. Schwarze Mütter, die Angst um das Leben ihrer Kinder haben, berichteten, was es bedeutet, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Die Betroffenen leben in einem Dauerzustand potenzieller und realer Trauer um andere Menschenleben, die bereits ausgelöscht wurden oder werden könnten.

In vielen Teilen der Welt herrschen große Angst und das tiefe Gefühl einer ungerechtfertigten Verwundbarkeit oder Gewaltanwendung, wenn es darum geht, das Grundrecht auszuüben, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Das darf und sollte so nicht sein. Gleichzeitig wollen wir nicht sagen, dass alle Verletzlichkeit überwunden werden sollte und dass wir versuchen, zu Menschen zu werden, die sich gegen jede Verletzlichkeit wehren. Denn wer sind wir dann? Das ist ein männliches Ideal eines verteidigten Individuums, das weder verletzlich gegenüber anderen, noch gegenüber der Welt ist. Ja, wir brauchen diese Verwundbarkeit, um uns daran zu erinnern, dass wir von der Gewaltlosigkeit anderer abhängig sind. Wir sind auf eine angemessene Gesundheitsversorgung, auf menschliche Wohnverhältnisse und eine funktionierende Lebensmittelversorgung angewiesen und verletzlich, wenn dies nicht sichergestellt und die Gewalt ungezügelt und unkontrolliert ist. Um die Verletzlichkeit zu bekämpfen, sollte jeder Zugang zu Nahrungsmitteln haben, Wohnen ein Menschenrecht sein und diejenigen, die mit polizeilichen Aufgaben betraut sind, für Gewaltlosigkeit einstehen. Wir wollen gewaltfreie Formen der Selbstverwaltung und in einer Welt leben, in der wir auf eine bestimmte Art gewaltfreier Behandlung vertrauen können. Wenn dieses Vertrauen gebrochen oder unsere Verwundbarkeit nicht so behandelt wird, wie es sein sollte, dann sind wir verloren.

Wir können uns nicht darauf verlassen, dass unsere sozialen Welten ein Ort sind, an dem wir ohne Angst vor Gewalt leben und gedeihen, uns bewegen und atmen können.

Für mich ist Verwundbarkeit nicht nur ein Aspekt meines individuellen Menschseins. Vielmehr zeigt Verletzlichkeit, dass ich mit der Welt verbunden bin. Wenn ich den Elementen schutzlos ausgeliefert bin, brauche ich Schutz, und wenn ich anderen Menschen gegenüber verletzlich bin, brauche ich Respekt, Anerkennung oder eine gewaltfreie Behandlung. Oder ich muss in irgendeiner Weise unterstützt werden, um leben zu können.

Verletzlichkeit, im Grunde ein Merkmal unserer sozialen Beziehungen, macht uns zu sozialen und Wesen, die zu einer größeren natürlichen Welt gehören, wenn nicht sogar zu einem Planeten, dessen Atemluft und lebenswertes Klima entscheidend sind, nicht nur für das menschliche Leben, sondern für alle Lebensformen.

Wenn Sie über Hautfarben und Interdependenz sprechen, denke ich an die Idee der Schwelle, daran, dass Menschen nicht durch Grenzen voneinander abgeschnitten, sondern über Schwellen verbunden sind.

In gewisser Weise fühle ich mich von der Idee der Schwelle sehr angezogen, weil ich glaube, dass unsere Körper durchlässig und wir miteinander verbunden sind. Wie beschreiben wir den Raum der Verbindung? Die Schwelle ermöglicht es, darüber nachzudenken, und bietet eine Möglichkeit, einen Weg des Überschreitens oder der Verbindung zu öffnen. Sie setzt unterschiedliche Territorien voraus, die sich dennoch treffen und überschneiden. Deshalb mag ich diesen Begriff.

Ich glaube, dass der Körper eine geistige Dimension hat, dass wir aus Öffnungen gemacht und als Körper nicht versiegelt sind.

Ich frage mich gerade, ob zwischen Körpern eine Grenze und zwischen dem Geist zweier Menschen eine Schwelle besteht. In den Geist des Anderen kann ich eintauchen, seinen Körper aber nur berühren.

Mit Ihrer Idee, so interessant sie auch ist, bin ich nicht einverstanden. Unsere Körper kommen sowohl sexuell als auch in Freundschaft und Gruppen zusammen. In der kollektiven Arbeit sind wir auf eine so körperliche wie unmittelbare Weise aufeinander angewiesen. Wir können nicht einfach von Fragen des Geschlechts, der Rasse, der Fähigkeiten und Behinderungen abstrahieren. Es handelt sich um keine kontingenten Merkmale. Rasse ist nicht nur die Farbe der Haut, vielmehr ein sozialer Prozess. In der deutschen Geschichte gibt es einen Moment der Rassifizierung der Juden, in dem sie als Rasse konstituiert, ausgesondert und ausgelöscht wurden. Und es gibt andere Momente, in denen Menschen ihren rassischen Status verlieren. Es geht folglich nicht nur um eine Art Faktizität der Haut oder Biologie, vielmehr darum, wie so etwas innerhalb eines komplexen Gefüges von Machtbeziehungen, Gewalt, Unterordnung und Hierarchie konstruiert wird. Wir können Rasse nicht außerhalb der Geschichte des Rassismus denken, wie es diejenigen tun, die an angeborene Eigenschaften glauben. Wir sprechen über den Menschen, und der hat einige Vorannahmen, die mit ihm einhergehen. Er ist tendenziell männlich, er ist tendenziell weiß und europäisch. Ich weiß nicht, ob wir einfach von dem Menschen ausgehen und dann entscheiden können, dass Geschlecht, Rasse, ethnische Zugehörigkeit und historische Formationen zweitrangig sind. Das würde ich weder sagen, noch akzeptieren. Denn dadurch verlieren wir die Möglichkeit einer breiten Mobilisierung, einschließlich der gegen den Kapitalismus. Sobald diese im Namen eines allgemeinen Subjekts erfolgt und all diese anderen sozialen Bewegungen als Fragmentierung der Bewegung oder als partikularistisch verstanden werden, entgleitet ihre die demokratische Basis, ihre Mobilisierungskraft und ihre Quellen der Unterstützung, die sie benötigt. Meines Erachtens können wir Geist und Körper nicht trennen.

Ich glaube, dass der Körper eine geistige Dimension hat, dass wir aus Öffnungen gemacht und als Körper nicht versiegelt sind. Wir müssen berührt und gefüttert werden, um als lebendige, fühlende Wesen hervorzugehen, die eine Sprache benutzen oder auf irgendeine Weise kommunizieren können, so dass die Berührung und das Gefühl der körperlichen Abhängigkeit nicht nur von unserer Geburt an, sondern über die Dauer unseres ganzen Lebens da sind. Deshalb müssen wir Infrastrukturen der Sorge entwickeln, die akzeptieren, dass die verkörperte Existenz mit der menschlichen koexistiert und dass beides nicht zu trennen ist. Wenn es eine Verbindung zwischen uns gibt, die wir spirituell nennen könnten, dann nicht, weil ich mich in Ihre Situation einfühlen kann, sondern, weil Sie bereits ein Teil von mir sind und ich bereits ein Teil von Ihnen. Das ist ein ontologisches Band, eine soziale Ontologie, die uns einerseits vom Individualismus wegführt und andererseits zeigt, dass es bei unserer gegenseitigen Abhängigkeit eigentlich um unser materielles, verkörpertes Leben geht. Darin besteht die Verbundenheit. Wenn wir also von Spiritualität und Verbundenheit sprechen wollen, dann würde ich sagen, dass sie aus der verkörperten Interdependenz kommt.

Globale Interdependenz

Ich denke, dass es eine Schwelle zwischen den Menschen gibt, die sich zwar durch Empathie überwinden lässt. Aber von der Gesellschaft geschaffene Grenzen erschwert und blockiert den Übergang zum anderen.

Ich befürchte, dass die Empathie eine gewisse Distanz zwischen mir und dem anderen aufrechterhält oder dass sie eine Art Analogie darstellt, bei der ich, wenn ich mich in den anderen einfühle, sein Leiden verstehe, weil ich glaube, dass diese dem meinigen gleicht. Vielleicht ist ihr Leiden ein anderes als meines. Vielleicht muss ich akzeptieren, dass es hier etwas Neues und Anderes gibt, das ich nicht schon kenne. Empathie neigt zu der Annahme, dass ich von meinem eigenen Leiden auf das andere schließen kann, dass es eine Analogie gibt, und vielleicht gibt es diese auch. Aber ich denke, wir müssen tiefer gehen, als es Empathie ermöglicht, und verstehen, dass wir in dieser Welt miteinander verbunden und weltweit voneinander abhängig sind, dass wir, wenn wir die Pandemie, den Klimawandel oder die mit der steigenden Inflation einhergehende Wirtschaftskrise bekämpfen wollen, die globalen Zusammenhänge und die globale Interdependenz verstehen und überdenken müssen, wer wir sind. Dass wir nicht nur diese Individuen sind, die Empathie für die anderen dort drüben empfinden. Wir sind eigentlich schon dort drüben, denn dieses Leben ist Teil des eigenen. Und wenn ich mich weigere, diesem anderen Leben Gewalt anzutun, weigere ich mich auch, meinem Leben Gewalt anzutun, denn ich bin diese Beziehung. Diese Idee ist eine viel tiefergreifendere als Empathie.

Wie können wir diesem Verständnis, dass wir bereits miteinander verbunden sind, näherkommen?

Die Pandemie hat uns das vor Augen geführt, und wir sahen auch, wie die Menschen versuchten, diese Tatsache zu leugnen, indem sie die Schließung der Grenzen im Glauben forderten, danach werde alles gut. Das stimmt aber nicht, denn die Menschen überschreiten nicht nur die Grenzen. Sie verhalten sich auch innerhalb dieser auf eine rücksichtslose Art und Weise, die sich nicht um das Leben anderer schert. Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass ihr Ausdruck persönlicher Freiheit das Leben eines anderen in Gefahr bringt. Es gibt also tiefgreifende Strukturen der Verleugnung, die wir abbauen müssen, wenn wir einen wirklich globalen Ansatz für die Weltgesundheit und einen Weg zur Überwindung dieser Pandemie finden wollen.

Was bedeutet es, eine Idee von Gleichheit auf einem Konzept der Interdependenz aufzubauen?

Es wäre eine Form der Gleichheit, die die materiellen Bedürfnisse der Menschen einschließt, inclusive Nahrung, Gesundheitsfürsorge und Unterkunft. Es würde zudem die nationalen Grenzen überwinden und verlangen, dass wir uns als global, vielleicht sogar als planetarisch und verantwortlich für den Planeten verstehen, von dem wir abhängig sind. Es bietet uns eine andere Möglichkeit, zusammenzuarbeiten, und ermöglicht es, unsere Gleichheit als gleichermaßen voneinander abhängig, gleichermaßen verantwortlich für die Erde und als gleichermaßen Teil der Erde zu verstehen. Dies sind Formen der Gleichheit, die von unserem Verständnis grundlegender Beziehungen als Voraussetzungen für das Leben abhängen.

JUDITH BUTLER

Judith Butler, geboren in Cleveland, US-amerikanische Philosophin, Lehrstuhlinhaberin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley. Mit ihrer Schrift „Das Unbehagen der Geschlechter“ stieß sie 1990 die Diskussionen um die Queer-Theorie an. Darüber hinaus befasste sie sich mit Fragen von Macht- und Subjekt-Theorien und der Ethik der Gewaltlosigkeit. In „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“ (2015) stellt sie sich die Frage, ob die „Politik der Straße“ als Ausdruck der Souveränität des Volkes aus radikaldemokratischer Perspektive oder als Herrschaft des „Mobs“ zu betrachten sind?

von The Collective Eye

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