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Titel: Essen und Trinken · von Jürgen Raap · S. 46 - 61
Titel: Essen und Trinken , 2002

Liebe geht durch den Magen

VON JÜRGEN RAAP

Wenn der rheinische Kurfürst Clemens August in seiner Residenz Schloss Augustusburg in Brühl den Kölner Bürgermeister empfing, sah das Protokoll ein Essen mit 10 Gängen vor. Das war das bescheidenste Diner, welches solch ein Herrscher des 18. Jahrhunderts zu bieten hatte. Ein hochrangiger Staatsgast hingegen wurde mit einem Bankett geehrt, das 38 Gänge umfasste. Dabei zählte man die Schüsseln mit Fleisch und mit Gemüse nicht mit, die ohnehin als separate Beigabe zu jedem Gang obligatorisch waren1.

Bewirten und Essen ist immer auch eine Demonstration von Macht und Status. In früheren Jahrhunderten schrieb die Obrigkeit ihren Untertanen genau vor, wie viele Gänge ein Kindtauf- oder Hochzeitsschmaus höchstens umfassen durfte, damit einerseits nicht zu viel verprasst wurde und andererseits der Standesunterschied zu den höheren Schichten gewahrt blieb.

Daniel Spoerri, um 1960 Begründer der Eat Art, verkehrte die hierarchische Feudalordnung einmal in ihr kulinarisches Gegenteil: Während früher die tributpflichtigen Bauern ihrem Schlossherrn das „gute“ Fleisch abliefern und sich selbst mit den Innereien begnügen mussten, ließ Spoerri bei einem Schloss-Bankett nur Bauerngerichte, und zwar Kutteln nach zwei Dutzend verschiedenen Rezepten servieren.

Jahrhundertelang war es so, dass eine dünne Oberschicht schlemmte und die Masse darbte. Die biblische Parabel vom periodischen Wechsel der sieben fetten und der sieben mageren Jahre hatte durch die häufigen Miss ernten bis weit ins 19. Jahrhundert für die Mehrheit einen konkreten Erfahrungshorizont, bis dann durch die Verwendung von Kunstdünger die landwirtschaftlichen Erträge gesteigert werden konnten.

Im Mittelalter durfte ein junger Geselle erst dann heiraten, wenn er eine Familie ernähren konnte. Und in den meisten Handwerkerzünften konnte nur dann jemand sein Meisterstück einreichen, wenn er bereits mit einer „unbescholtenen Jungfrau“ verlobt war. Die bevorstehende Heirat sollte garantieren, dass im Meisterhaushalt auch die Lehrlinge und unverheirateten (Jung-)Gesellen beköstigt werden konnten.

In jener Epoche gründete man eine Familie nicht aus emotionalen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. In der Ära der Romantik begann man zwar, die Liebesheirat als Ideal zu beschwören, doch bis heute spielt in breiten Schichten nach wie vor die soziale Absicherung eine Rolle: Das geflügelte Wort „Liebe geht durch den Magen“ legt nahe, gerade ein Beherrschen der Kochkünste könne emotionale Zuneigung hervorrufen und diese festigen. Doch dazu müssen die Rohstoffe und Zutaten erst einmal erwirtschaftet werden. In den meisten Kulturen mit traditionellen Rollenmustern definieren sich noch heute ein äußerer gesellschaftlicher Rang und eine interne patriarchalische Autorität vor allem durch die Fähigkeit, als „Ernährer“ der Familie auftreten zu können. Das gemeinsame Einnehmen der Mahlzeit und die damit verbundenen sozialen Regeln sind eine wichtige Klammer des familiären Zusammenhalts.

Das wichtigste Verdikt lautete autoritär: „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt; Extrawürste gibt es nicht“. In den modernen arbeitsteiligen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften hingegen sind längst nicht mehr Herd und Esstisch Mittelpunkt des familiären Miteinanders. Die berufstätigen Eltern nehmen ihre Hauptmahlzeit des Tages in der Firmenkantine ein, die Kinder erhalten in der Ganztagsschule Mensaverpflegung.

Küchen- und kantinenlogistisch sind Zubereitung und Verzehren des Essens ökonomisiert worden; die „Fünf-Minuten-Terrine“ ist Sinnbild dieser Beschleunigung der Ernährung. Auf die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitswelt im Internet-Zeitalter reagiert die Gastronomie mit „multioptionalen“ Bistrorant-Konzepten: „Die Trennungen zwischen Mittagessen und Abendessen, zwischen Snack und Mahlzeit verschwimmen zusehends. Die Gastronomie passt sich den neuen Lebens- und Arbeitsformen an. Man isst im Bistrorante, in der Brasserie, im Café-Bar-Restaurant oder einfach im Imbiss. Man isst im Stehen oder an der Bar, nimmt mit oder lässt liefern. Die Nahrungsaufnahme wird so flexibel gestaltet wie möglich. Man hält sich alle Optionen offen…“2.

Dies bedeutet einsichtigerweise eine zunehmende Entritualisierung der Tischkultur im Alltag, und daraus erklärt sich vielleicht das aktuelle große Interesse an der Inszenierung von ästhetisierten und rituellen „Gegenbildern“ bei Künstlerbanketten und im „Event-Catering“.

„Kunst und Essen“ – das bedeutet in Bildern und Zeichnungen auch eine Reflexion von Nahrung im simplen Alltag. Im Aktionismus jedoch realisieren Künstler in der Regel etwas ganz Besonderes jenseits gastronomischer Standards. Joseph Beuys hatte allerdings die Beschäftigung mit Lebensmitteln hauptsächlich auf die Aspekte „Nährwert“ und „Energie“ konzentriert. Bei vielen anderen Künstlerkonzepten steht aber eher der kulinarische wie optische Genuss im Vordergrund, oft mit Verweisen auf Religiöses und Mythologisches, wobei z.B. Hermann Nitsch es bei seinem Prinzendorfer Sechs-Tage-Spiel im August 1998 und bei anderen Aktionen durchaus verstand, rituelle Feierlichkeit mit orgiastischen Zügen zu verbinden.

BRATKARTOFFELVERHÄLTNIS

„Gut genährt“ zu sein und mitunter auch so auszusehen bedeutete noch in den Wirtschaftswunderjahren der Adenauer-Ära ein Statussymbol. In den zeitgenössischen Karikaturen war der typische Kapitalist meistens dick und mit einer Zigarre versehen. Erst nach 1960 bekamen vermehrt andere Konsumgüter einen ähnlichen gesellschaftlichen Prestigewert, während sich gleichzeitig ein Schlankheitsideal als modisches Leitbild durchsetzte.

Mit der „Wellness“-Welle unserer Tage ist auch das Streben nach „Gesunder Ernährung“ zu einem „Lifestyle“-Phänomen geworden, das den muffig-spartanischen alternativen Bio-Laden der 80er Jahre längst hinter sich gelassen hat. Der Hedonist unserer Tage will seinen Körper nicht durch eine entsagungsvolle Diät stählen, sondern mit Gourmet-Qualität. Deswegen verwöhnt selbst das AOK-Gesundheitsmagazin „vigo“ seine Leser schon mal mit dem Abdruck eines Kochrezepts des Drei-Sterne-Kochs Dieter Müller.

In der Mangelwirtschaft der un mittelbaren Nachkriegszeit war indessen das geflügelte Wort „Liebe geht durch den Magen“ in einer ganz speziellen Weise wörtlich zu nehmen. Diese Ära prägte nämlich das sogenannte „Bratkartoffelverhältnis“. Aus der zu nächst oftmals nur rein praktischen Vereinbarung zur Verpflegung zwischen Alleinstehenden ergab sich häufig im Laufe der Zeit eine nähere Bindung. Viele Kriegerwitwen vermieden dann jedoch eine Heirat mit einem neuen Partner, um ihre Rente nicht einzubußen. Damals war jedoch ein Zusammenleben von Unverheirateten durch den erst nach 1970 abgeschafften „Kuppeleiparagrafen“ verboten. Man behalf sich mit einer Doppelmoral. Der neue Lebensgefährte trat nach außen hin als „Onkel“ auf (man sprach auch von der sogenannten „Onkel ehe“), oder als ein Kostgänger, der sich vorgeblich nur zum Essen einfand, weil er selbst nicht kochen konnte. Natürlich wurden dann nicht immer nur Bratkartoffeln aufgetischt, doch in diesem Zusammenhang ist das Wort Synonym für eine einfache, billige und vor allem sättigende Mahlzeit.

Die DDR-Gastronomie bereicherte seinerzeit die deutsche Sprache um den Begriff „Sättigungsbeilage“ und offenbarte darin einen kulinarischen Puritanismus. Geschmackliche Raffinessen sollten nicht nur um des reinen Genusses willen serviert, sondern um entsprechende Nährwerte abgerundet wer den.

In jenem Maße, wie sich ab etwa 1960 im Westen eine Überflussgesellschaft herausbildete und dort zugleich politische, ideologische und soziologische Brüche das kulturelle und gesellschaftliche Identitätsgefüge erschütterten, eroberte sich die Kunst neue Darstellungsformen und Materialien, mit denen sie auf diese Umbrüche reagierte. Zu den künstlerischen Strategien des Schockierens und Provozierens gehörte auch der bis dahin eher selten geübte Einsatz realer Nahrungsmittel. Das allerdings empfand eine Generation, die sich noch lebhaft an die Lebensmittelkarten-Rationen der Hungerzeit nach 1945 erinnerte, oftmals als Tabuverletzung. „In Afrika verhungern die Kinder, und Sie matschen hier mit Lebensmitteln herum!“ Solche Vorhaltungen bekommen Performancekünstler auch heute zu hören.

Seitens der Künstler waren und sind solche Tabuverletzungen jedoch nicht immer gewollt. Joseph Beuys z.B. erklärte anlässlich der Aufführung seiner „Sibirischen Sinfonie“ 1963 in Düsseldorf, wenn er einem toten Hasen das Herz entnehme, so habe das „nichts mit neodadaistischem Bürgerschreckgetue zu tun“, sondern es ginge vielmehr um inhaltliche Beziehungen „zu Geburt und Tod, zur Verwandlung von Materie“3.

Der Fluxuskünstler Wolf Vostell wollte Zeit sichtbar machen und ließ dazu 1970 einen Zug mit Salatköpfen zwischen Köln und Aachen solange hin und her fahren, bis der Salat völlig verwelkt war4. Al Hansen, ebenfalls Mitbegründer der Happening- und der Fluxusbewegung, thematisierte einen Umgang mit banalen Materialien und Gesten noch in seiner letzten Performance zwei Wochen vor seinem Tod 1995. Anlässlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Beendigung des 2. Weltkriegs hatte Al Hansen im Juni 1995 im Kölner Urania-Theater mit verschiedenen Performerinnen die Soirée „Celebration Krieg“ aufgeführt. Hansen selbst trat im militärischen Kampfanzug auf, stellte einen Campingkocher auf die Bühne und ließ eine Dose Bohnensuppe aufkochen, die er dann langsam auslöffelte.

II. Essensbilder

Die generellen ästhetischen Brüche in der Kunst nach 1960 hatten auch die Parameter innerhalb eines intellektuellen wie stofflichen Bezugsrahmens von „Kunst und Essen“ verschoben. Roswitha Neu-Kock bemerkte dazu: „Mit der Eat Art zeichnete sich eine markante Veränderung des künstlerischen Umgangs mit dem Thema Essen und Ernährung ab. Statt sich dem schönen Schein der Dingwelt, der leuchtend-prallen Marktvielfalt und den genussversprechenden Fleisch- und Fischbanketten hinzugeben, wurden die physischen, psychischen und gesellschaftlichen Bedeutungsebenen durchleuchtet, individuelle Prägungen, Erinnerungen sowie ökonomische und ökologische Zusammenhänge mit Hilfe der Bilder und Objekte erforscht. Sexualität, Gewalt, Angst, Überdruss, Überfluss, Langeweile, Kommunikationslosigkeit, Vergänglichkeit, Verwesung bilden den Bezugsrahmen der Nahrungsaufnahme, wie er in den Exponaten der Wuppertaler Ausstellung (1987) präsentiert wurde. Ein Blick auf das Kapitel ,Künstlerinstallationen‘ in dem Wiener Ausstellungskatalog ,Mäßig und Gefräßig‘ von 1996 zeigt, dass sich diese Thematik … nicht wesentlich geändert hat“5.

Die von Ursula Peters und Georg F. Schwarzbauer 1987 kuratierte Wuppertaler Ausstellung „Vom Essen und Trinken“ war eine der ersten umfangreicheren Bestandsaufnahmen zum vorliegenden Thema gewesen. Sie dokumentierte u.a. Gabriele Henkels Installation „Frühstück bei Edison“ (1986) mit Glühbirne, Kupferrohr, Ampèremessgerät und anderen Utensilien, verschiedene Collagen von Christian Ludwig Attersee aus den 60er Jahren und Bilder mit Motiven wie „Suppe“ oder „Gelage“ von Bertram Jesdinsky aus den 80er Jahren. Es fehlten auch nicht drei Skulpturen aus Martin Kippenbergers Serie „Familie Hunger“ (1985), Zeichnungen angebissener Äpfel von Rüdiger Pauli („Bissproben“) oder Brot mit eingebackenem Abfall von Daniel Spoerri (1965).

Vermehrt tauchen dann in den 90er Jahren im deutschsprachigen Raum Themenausstellungen und Symposien rund ums Essen in den Veranstaltungskalendern auf. „Bon Appetit“ nannte sich z.B. eine Ausstellung mit Octavio Blasi, Mario Ossaba und Francisco Rocca 1994 in der Freiburger Galerie Ruta Correa.

Die Münchener Galerie Rainer Masset zeigte ebenfalls 1994 die Ausstellung „Milchwirtschaft“. Kuratorin Barbara Rollmann hatte 26 Künstler eingeladen, in den Räumen einer früheren Molkerei künstlerische Rekurse auf die Muttermilch, auf die Käseindustrie und auf die religiöse Bedeutung der „heiligen Kühe“ im Hinduismus zu zeigen. Selbstredend gab es zur Vernissage Milch zu trinken.

Das Institut français Freiburg lud in jenem Jahr 1994 zu einem Kolloquium „Brot und Wein“ und das Forum Kunst Rottweil begleitete seine Veranstaltung „Aus der Küche der Künste“ mit einem Vortrag von Robert Kudielka. Es folgten die Ausstellungen „Essen und Trinken“ in der Kölner Kaos-Galerie 1995, „Mäßig u. gefräßig“ im MAK-Museum Wien sowie „Küchengeister – Küche, Kunst, Müll und Dunst“ in der Berliner Galerie im Körnerpark 1996.

Die Bonner Bundeskunsthalle führte eine Symposion-Reihe zu den fünf Sinnen durch. 1996 widmete man sich dem Geschmack. Mark I. Friedman erläuterte in seinem Vortrag die chemosensorischen Geschmacksqualitäten und die Wahrnehmung der Aromen. Gerhard Neumann beschrieb Gastmahl inszenierungen als „Geschmackstheater“, und Hans J. Teuteberg führte zur „kulturwissenschaftlichen Phänomenologie der täglichen Mahlzeiten“ aus, dass es sich beim Nahrungsverzehr „nicht nur um die Be friedigung physiologischer Bedürfnisse“ handele, sondern mit der Ge schmacksgebung durch Würzen und andere Beimengungen (etwa von Fett) werde zugleich „immer eine Art von Information konstituiert“6.

Nach der Ausstellung „L’Art Gourmand“ mit Beispielen aus der älteren Kunst im Kölner Wallraf-Richartz-Museum 1997 gab es im folgenden Jahr unter dem Titel „Mundgerecht – Kunst in vier Hamburger Kantinen“ zu sehen. 1999 hieß es dann in Halle in der Villa Kobe/Burg Giebichenstein „Essen und Gegessen werden“; und um „Esslust und Völlerei“ ging es 1999/2000 in der Essener Galerie Ricarda Fox. Kurz zuvor hatte Thomas Querengässer in seiner Kölner Galerie „Skala“ Objekte zum Thema „Wein“ ausgestellt.

„Essensbilder“ präsentierte die Hamburger Galerie Dörrie u. Priess im Januar 2000. Zu den Exponaten gehörten u.a. von Stefan Balkenhol die skulpturale Darstellung eines geschlachteten Huhns und von Martin Assig die Nachbildung einer Tafel Schokolade aus Holz. Piotr Nathan (Tasse Kaffee) und Karin Kneffel (Stück Fleisch) zeigten Ess- und Trinkbares in pop-realistischer Malerei.

Im Juni 2001 bot „der seit 1987 ungeschlagene Weltmeister der Kochperformance“ Fredie Beckmans in der Kölner Galerie „maly“ zu Tisch. Beckmans tritt alljährlich gegen andere internationale Künstlerköche an. „Da wird schon mal in alchemistischer Prozedur Teufelsdreck mit Lourdes-Wasser neutralisiert, flambierte Hammelhoden und kolumbianische Waldameisen werden zu kulinarischen Preziosen ge reicht“, heißt es in einer Repertoire-Beschreibung. Das sechsgängige Menü „mit Tafelmusik und Tafelpoesie“ für zwölf Gäste in der Galerie „maly“ hatte Beckmans unter das Motto gestellt: „Ich pfeif auf den Salat“.

24 junge Künstler durften sich im Juli 2001 im Heidelberger Kunstverein zum Thema „Essen“ äußern. Prof. Rainer Wild, Initiator einer Stiftung für gesunde Ernährung, hatte einen Ausstellungswettbewerb angeregt, zu dem 300 Bewerbungsmappen eingereicht worden waren. Die Jury wählte vor allem Arbeiten mit Fotografie und Video aus; Malerei und Grafik waren hingegen eher sparsam vertreten. Inhaltlich reichte der Bogen vom Füttern des Kleinkindes bis zur Henkersmahlzeit und der höchst ironischen Fabulierung, wie wohl Künstlergattinnen in der Küche das Werk ihres Mannes nachempfinden: „Demnach hätte Frau Klein ihrem Yves tatsächlich blaue Kuchen gebacken“.

Für den Herbst 2001 hatte die Kuratorin Elisabeth Hartung in München drei Projekte organisiert: Ein Bankett mit Daniel Spoerri und eine Dokumentation seiner Eat Art-Projekte, alsdann „Tafelrunden“-Events und schließlich diverse Filme, Installationen und Objekte zum Aspekt „Tischsitten/Esskultur“.

Die im Dezember 2001 zu Ende gegangene Spoerri-Ausstellung im Aktionsforum Praterinsel war seit 1971 die erste gewesen, die sich ausschließlich dem Aspekt der Eat Art in Spoerris Gesamtwerk widmete. Sie dokumentierte die frühen Aktionen, Bankette und Bücher, aber auch das seinerzeitige Düsseldorfer Restaurant Spoerri und die Eat Art-Galerie.

Im Münchener Maximiliansforum hatte Elisabeth Hartung kurz zuvor im September 2001 sieben junge Künstler zur Inszenierung von „Tafelrunden“ eingeladen. Sonja Alhäuser präsentierte ihre „Blätterteiggesellschaften“ mit essbaren Tischarrangements. Richard Paul Annely gestaltete ein temporäres Café, wie es für die britische Gastronomie typisch ist, und arrangierte dort ein „English Breakfast“, das bekanntlich weitaus umfangreicher und mächtiger ist als unser vertrautes „Continental Break fast“. Carl Emmanuel Wolff schuf Plastiken zur Visualisierung der Frage. „Was sollen wir denn heute kochen?“ Die japanische Künstlerin Chelin konzipierte ein „Japanese Diner“ nur für geladene Gäste (als Demonstration einer „Tafelrunde“ als „geschlossene Gesellschaft“), wo hingegen Benjamin Bergmann sich um die „Speisung der Zehntausend“ kümmerte. Angela Dorrer versteigerte ihre „Promicookies“ mit Plätzchen, die Prominente vor dem Backen im Mund geformt hatten, und schließlich beteiligte sich noch „Die Bayerische Geisha“ mit „Mein Gastmahl“ als zweiteiliger Performance.

Mit Sicherheit ist diese Aufzählung von Ausstellungen in der jüngsten Vergangenheit nicht vollständig. Für das enorm angewachsene künstlerische wie kuratorische Interesse gerade in der letzten Zeit gilt heute wohl erst recht, was Corinna Thierolf bereits über ein Herdobjekt von Felix Droese aus dem Jahre 1985 feststellte, nämlich „dass die Themen Kochen oder Essen prägnantester Ausdruck und Symbol für die zunehmende Traditions- und Beziehungslosigkeit des Menschen sind“7.

Denn je größer die kulturelle Sehnsucht nach „Authentischem“ wird, desto mehr wird gerade das Essen mit seinem höchst urtümlich-existenziellen Charakter zu einer Chiffre auch für soziale Nähe, für kommunikative Gemeinsamkeit und für situative Unverwechselbarkeit. Innerhalb des hedonistisch orientierten Lebensstils in den heutigen Single-Haushalten wird gemeinsames Essen jedoch völlig anders zelebriert als beim „Bratkartoffelverhältnis“ der Großelterngeneration.

Kann man der Kunst der Alten Meister unterstellen, ihre Stillleben zeigten häufig einen Illusionismus, der sich von der Ernährungsrealität im Alltag deutlich unterschied, so geht es in der heutigen Kunst um das tatsächlich und unmittelbar Verfügbare und um dessen Einverleibung, begleitet von direkter Kommunikation: Matthew Ngui bereitete auf der documenta 1997 asiatische Gerichte zu, die das Publikum an Ort und Stelle verzehren konnte. Rirkrit Tiravanija ist „Initiator von Settings“ als „Medium der Kommunikation“ (Beatrice Schaechterle). Im Kölnischen Kunstverein baute er 1996 sein New Yorker Appartement im Maßstab 1:1 nach. Der Katalog dokumentiert, wie dort Besucher gemeinsam kochten, aßen, tranken und lebhaft miteinander redeten8.

Die im Alltag übliche räumliche und soziale Distanz ist bei den Tiravanija-Aktionen völlig aufgehoben, ebenso wie die museale Distanz zwischen Exponat und Betrachter.

III. Essen und Repräsentation

Kommunikation und nicht Repräsentation steht mithin beim Künstleressen im Vordergrund. Das Originelle ist bei Eat Art-Events nicht unbedingt mit Erlesenem identisch. Wie luxuriös und wie umfangreich indessen bei einem konventionellen repräsentativen Gastmahl die gereichten Speisen sind, ist ein Gradmesser für die Wertschätzung, die ein Gastgeber seinem Gast zuteil werden lässt.

Als Anfang 1990 der damalige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (PDS) nach Bonn kam, um mit Bundeskanzler Helmut Kohl über eine Föderation oder Konföderation der beiden deutschen Staaten zu sprechen, ließ Kohl demonstrativ ein recht bescheidenes Arbeitsessen auftragen. Damit machte er deutlich, dass er Modrow nur für einen Übergangs-Premier bis zu den freien Volkskammerwahlen wenige Wochen später hielt. Den „Einigungsvertrag“ handelte dann Modrows Nachfolger Lothar de Maizière (CDU) aus.

Mit der Repräsentativität eines Staatsbanketts durchaus vergleichbar ist die Repräsentativität und Kostbarkeit der Kunst, die in staatliche Kunstsammlungen aufgenommen wird. Staatliche Sammlungspolitik trägt bis heute konservative Züge. In diesem Kontext hängt das Image einer Delikatesse nur bedingt von ihrem Wohlgeschmack ab, und das Image der Kunst auch nur bedingt von ihren konkreten Inhalten und ihrem jeweiligen Stil.

Etwas muss besonders alt, besonders selten oder gar einmalig, schwierig zu beschaffen oder herzustellen und damit teuer sein, um zur repräsentationswürdigen kulturellen Kostbarkeit zu avancieren. Das gilt für die Bilder der Alten Meister ebenso wie für eine Flasche Armagnac aus dem Jahre 1913, die im heutigen Feinkosthandel rund 1000 Mark (511 Euro) kostet.

Eine absolute Steigerung an kultureller Exklusivität bot das Diner, zu dem während des Kölner Weltwirtschaftsgipfels im Juni 1999 Bundeskanzler Gerhard Schröder die Staatschefs der anderen sieben bedeutendsten Industrienationen lud. Das Menu wurde nämlich nicht nur von einem Star-Koch aus der Region zubereitet, sondern zudem im Römisch-Germanischen Museum auf dem 1700 Jahre alten Dionysos-Mosaik aufgetragen. Das Mosaik stammt aus dem Speisesaal einer römischen Villa und darf im Museum natürlich sonst von niemandem betreten werden.

„Die Beziehungen zwischen der Gastrosophie und der bildenden Kunst sind offensichtlich… auch die Kunstgeschichte zeigt Verbindendes und Verbindliches… die italienische Renaissance hat mit den schönen Künsten die feine Küche und die guten Sitten erneuert“, schreibt der Gastrosoph Franz Herre9. Und diese Erneuerung wirkt noch heute nach. Das Herrscherbildnis der Renaissance und des Barock lebt in der Tradition weiter, dass in unseren Tagen Jörg Immendorff den Bundeskanzler porträtieren darf, und die protokollarischen Regeln beim Staatsbankett der modernen Demokraten beruhen auf Vereinfachungen eines höfischen Zeremoniells, das in der Feudalzeit des 16./17. Jh. begründet wurde.

So spiegelt in der Alten Kunst Frans Synders „Stilleben mit Geflügel und Wildbret“ (1614) oder Willem Kalfs „Stilleben mit Prunkgefäßen“ (1643) eine Inszenierung von Opulenz wider, wie sie eher für festlich-repräsentatives Gepränge üblich war als im „normalen“ Alltag der einfachen Bürger und Bauern.

Seit dem Spätmittelalter sind im Genrebild und im Stillleben die Darstellung von Tafelfreuden, von Ess- und Trinkbarem ein populäres Motiv der Kunstgeschichte. Allerdings gab es ein soziales Essens-Tabu, „wenigstens für Personen ,von Stande'“, wie Rainer Hagen erläutert10. Heilige, Aristokraten und reiche Bürger wurden nicht bei der Nahrungsaufnahme dargestellt, sondern nur die „einfachen“ Leute. Kein Fürst und kein gutsituierter Kaufmann ließ sich porträtieren, während er sein Essen in den weit geöffneten Mund löffelte oder mit aufgeblähten Wangen Kaubewegungen ausführte.

„Alles, was Ernährung und die materielle Existenz des Körpers betraf“, wurde laut Rainer Hagen in der Philosophiegeschichte seit Aristoteles den „niederen Sphären“ zugeordnet. Folglich fanden in diesem Sinne biblische Abendmahls-Darstellungen in der Kunst nur deswegen eine gesellschaftliche Akzeptanz, weil sie eine rituelle, sakrale Handlung und keine profane Schlemmerei zeigten.

Auch Stillleben und „Natur mort“-Motive mit frisch erlegtem Wild konnten wohl nur dann einem offiziellen Kunstbegriff entsprechen, wenn sie eine gewisse Feierlichkeit und Entrücktheit ausstrahlten. Eine ästhetische Überhöhung war notwendig, um das Animalisch-Physische zu überdecken. Mit einer solchen Ästhetik korreliert alsdann logischerweise eine Triebregulierung und entsprechende Disziplinierung im Alltagsverhalten: Am Arbeitsplatz isst man nicht einfach, wenn man Hunger hat, sondern nur zu festgelegten Pausenzeiten.

Künstlerische Wiedergaben von unmäßiger Völlerei und Zecherei beschränkten sich daher auf ein Szenario der niederen Stände, auf die Illustration von Bauernhochzeiten und den Gelagen in Landsknechts-Tavernen, in der Wiedergabe von Bordellszenen und ähnlichem, was vordergründig oft als bildliche Warnung vor den sieben Todsünden gedacht war, den Betrachtern gleichwohl Anreize zur Sinnenfreude bot.

Der Topos der zechenden Mönche setzt sich in der Malerei erst im 19. Jh. durch, in einem Zeitalter zunehmender Säkularisierung. Aber diese Bilder entsprachen wohl kaum der Wirklichkeit, in der ja nach wie vor höchst strenge Klosterregeln praktiziert wurden.

LUXUS UND ARME-LEUTE-ESSEN

Man kann sich vorstellen, wie umfangreich die Brigade an Leibköchen, Trancheuren, Küchenhilfen, Kellnern und Schankburschen gewesen sein muss, um im Schloss des Kurfürsten Clemens August ein 38 Gänge-Menü herzurichten und zu servieren, dessen Verzehr natürlich auch entsprechend lange dauerte. Was es nach heutigem Geldwert gekostet hat oder kosten würde, wenn man z.B. einen Catering-Service beauftragen würde, ist nicht zu berechnen. Grundbedarfsmittel wie Salz und Zucker waren früher nämlich relativ teuer. Viele Würzmittel, Teeblätter und anderes musste man damals mühsam über die alten Karawanenwege aus Asien oder per Schiff aus Übersee heranschaffen. Auf den hiesigen Märkten wurden sie dann verständlicherweise so teuer gehandelt wie heutzutage weiße Piemont-Trüffeln. Zudem erhob die Obrigkeit auf fast alle Rohstoffe und fertige Lebensmittel eine Salz- oder Getreidesteuer, einen Bierpfennig oder eine Weinakzise.

Die Neigung, Verbrauchs- oder Luxussteuern auf bestimmte „Genussmittel“ zu erheben, pflegen auch die Finanzminister unserer Tage. Sie freuen sich über die Einkünfte aus dem staatlichen Branntweinmonopol und aus der Sektsteuer, die übrigens seinerzeit Kaiser Wilhelm II. zur Finanzierung der Kriegsmarine eingeführt hatte.

Im frühen Mittelalter gehörte das Backen von Brot und das Brauen von Bier zu den Pflichten der Hausfrau: Ein Laib fertiges Brot war nämlich beim Bäcker etwa siebenmal so teuer wie die Menge Mehl, die man zur Herstellung dieses Laibes brauchte. Viele Stadtbewohner waren „Ackerbürger“, die innerhalb der Stadtmauern ein kleines Stück Land oder einen Garten bewirtschafteten. In den Höfen hielt man Kleinvieh, um so eine möglichst autarke Haushaltsführung praktizieren zu können.

Die Bereicherung des Speisezettels durch Einflüsse von außen hielt sich im Alltag der Normalbürger mithin in Grenzen. Kakao z.B. war im 18. Jahrhundert noch etwas völlig Luxuriöses. Wie so manches andere, dessen Grundbestandteile aus den damaligen Kolonien importiert werden musste, konnte sich der Durchschnittsverbraucher früher Schokolade keineswegs als Alltags-Nascherei leisten.

Ergo: Viele Nahrungs- und Genussmittel, die in den heutigen Wohlstandsgesellschaften im Überfluss vorhanden sind, waren vor 300 oder 400 Jahren selten und kostbar. Umgekehrt gehörte bisweilen heute Edles früher in allen sozialen Schichten zur täglichen Ernährung. Was mithin als Delikatesse gilt, und was den Nimbus des „Arme Leute-Essens“ hat, ändert sich im Laufe der Zeit zwangsläufig unter neuen ökonomischen, agrarpolitischen, ökologischen und sozio-kulturellen Vorzeichen, und natürlich auch durch den Wandel in der Transport- und Kühltechnik.

In Köln z.B. streikten im Mittelalter einmal die Seidenmacherinnen für besseres Essen: Sie waren es leid, im Haushalt ihrer Meister immer nur mit Rheinsalm beköstigt zu werden, den die Fischhändler auf den Märkten verschleuderten. Theodor Fontane erwähnt, dass im 19. Jh. der Flusskrebs aus der Oder „bei der dienenden Bevölkerung so verhasst und dem Magen der Leute so widerwärtig war, dass es verboten war, dem Gesinde mehr als dreimal wöchentlich Krebse vorzusetzen“11.

Im ausgehenden 20. Jahrhundert hingegen war kein gutbürgerliches Buffet ohne „Lachshäppchen“ denkbar. Für die Ärmeren wird noch heute ein Billig-Fisch mittels roter Lebensmittelfarbe zum „Lachsersatz“ umgemodelt. Flusskrebse importiert man heute zumeist aus Spanien oder Skandinavien, und sie sind relativ teuer.

Der stark verschmutzte Rhein galt vor 20 Jahren als „ökologisch tot“. Folglich sah sich damals ein Ausflugslokal in Remagen dazu veranlasst, seine Gäste darüber zu informieren, das dort angebotene Gericht nach einem traditionellen Rezept für Rheinsalm werde nicht mit Fisch aus dem Rhein zubereitet, sondern mit norwegischem Lachs. Heute hingegen ist der Salm weit davon entfernt, als Edelfisch anerkannt zu werden – die Lachsfarmen in den norwegischen Fjorden überschwemmen die Märkte mit den Produkten ihrer Überzüchtungsmethoden.

Genau umgekehrt verlief der Imagewandel des grünen Herings. Noch um 1970 war „Heringe mit Pellkartoffeln“ ein typisches Essen der kleinen Leute gewesen. Durch die Verschmutzung der Meere und zeitweilige „Überfischung“ der Fanggründe jedoch avancierte der Hering inzwischen zum Exotikum in der postmodernen „Bistrorant“-Küche.

Zu Lenins und Stalins Zeiten durften sich die Arbeiter in den Konservenfabriken des kaspischen Astrachan ein üppiges Frühstück mit Kaviar gönnen. Mittlerweile jedoch führte die Verschmutzung des Kaspischen Meeres zu einer so starken Dezimierung der Stör-Bestände, dass russische Lebensmittelchemiker künstliche Proteinkügelchen entwickelt haben, die so ähnlich aussehen und schmecken wie die originalen Fischeier in den Varianten Sevruga, Beluga und Osietra. Echter Kaviar war hierzulande immer schon so teuer, dass er als Luxus-Delikatesse schlechthin gilt. Um 1990 hatte daher der Künstler Georg Herold in seine Bilder echten Kaviar eingefügt, um eine Relativierung materieller Werte zu verdeutlichen: „Geld spielt keine Rolle“12.

IV. Paläanthropologische Ursprünge

Die stetige Verfeinerung der Speisen ist eine Konstante in der menschlichen Kultur- und Zivilisationsgeschichte. Der Frankfurter Paläanthropologe Friedemann Schrenk vertritt die These, dass sich vor etwa 2,4 Mill. Jahren zur biologischen Evolution eine kulturelle Evolution gesellt habe – ihre fortan gemeinsame Geschichte ließe sich dann als „biokulturelle Evolution“ beschreiben13. Für die Entwicklung menschenähnlicher bzw. vormenschlicher Wesen hin zum Homo sapiens seien ab diesem Zeitpunkt Werkzeugkultur, Kommunikation und Sozialverhalten immer wichtiger geworden, während seit der Durchsetzung des aufrechten Gangs keine gravierenden physischen Veränderungen in der Anatomie und in der Fortbewegung mehr stattgefunden hätten.

Der Vormensch vom Typus Australopithecus lebte im Freien und ernährte sich ausschließlich vegetarisch. Die Nutzung des Feuers setzt in der Menschheitsgeschichte erst relativ spät ein, und erst dann treten auch Höhlenbewohner auf.

Die Erweichung der Nahrung durch Feuernutzung führte laut Schrenk in der biokulturellen Evolution zu einer geringeren Bedeutung der Backenzähne: Der heutige Homo sapiens hat um ein Drittel kleinere Zähne im Oberkiefer als seine genetischen Vorfahren. Biokulturell bedeutsam ist ebenso die Tatsache, dass diese rein vegetarischen Vormenschen einen längeren Darm hatten als der spätere fleischessende Homo sapiens.

Ein Wechsel von Regen- und Trockenzeiten bescherte dem Australopithecus generell auch einen Wechsel des Nahrungsangebots, wobei es in Trockenperioden aber nur hartfaserige und hartschalige Früchte gab. Einsichtigerweise liegt ein wesentlicher Ursprung des Werkzeuggebrauchs vor allem im Zerbrechen und Zerkleinern von Nahrung durch hammerartige Gegenstände. Erst sehr viel später schliffen sich unsere genetischen Vorfahren auch Schneidewerkzeuge zurecht.

Aus Sicht der Anthropologen ist die „Kulturfähigkeit“ des Menschen prinzipiell vorhanden; sie setzt nicht erst irgendwann ein. Allerdings gibt es erst relativ spät Hinweise auf Nahrungsteilung und eine gesellige Funktion des Feuers. In der aktuellen Wissenschaftsdiskussion lässt sich aber (noch) keine exakte Datierung festmachen. Über den Fortgang der menschlichen Evolution ist generell zu sagen: Während eine biologische Information über die Gene transportiert wird, vermittelt sich kulturelle Information über Sprache und Nachahmung. Je komplizierter Waffen und Werkzeuge wurden, desto komplexer und differenzierter wurde dann zwangsläufig auch die Sprache zur Unterweisung in Herstellung und Gebrauch dieser Dinge.

Die Vor- und Frühmenschen lebten unter einem enormen unmittelbaren Umweltdruck. Je mehr diese Wesen durch die Werkzeugkultur eine Unabhängigkeit gegenüber der Umwelt erlangten, desto mehr wuchs allerdings ihre Abhängigkeit von zivilisatorischen Techniken und der Fähigkeit zur sozialen Organisation.

Klimaveränderungen veranlassten den Urmenschen zu Wanderbewegungen, zunächst wohl nur innerhalb Afrikas, wo aufgrund von bisherigen Fossilienfunden die evolutionäre „Wiege der Menschheit“ zu sein scheint, bis dann auch kältere Regionen im Norden besiedelt wurden. Die bisher ältesten Knochenfunde menschenähnlicher Wesen außerhalb Afrikas stammen aus Georgien.

Eine dauerhafte Besiedlung kälterer Klimazonen ist aber nur möglich gewesen, indem die Urbevölkerung eine Vorratsplanung und damit auch Techniken zur Haltbarmachung von Nahrung entwi ckelte. Bis heute kennt man im wesentlichen vier klassische Konservierungstechniken:

a) Trocknen,

b) Erhitzen,

c) Räuchern,

d) Einlegen (Marinieren).

Der Amsterdamer Soziologe Johan Goudsblom erklärt den kulturanthropologischen Sinn des Kochens durch das Bedürfnis, manche Rohkost überhaupt erst genießbar zu machen, d.h. geschmackvoller und verdaulicher zuzubereiten14. Fleischnahrung ist generell an Feuernutzung und an Zerlegungstechniken mit entsprechenden Werkzeugen gebunden.

In den urzeitlichen Jägergesellschaften dürfte man zunächst nur versucht haben, kleinere Tiere in einfachen Schlingen zu fangen, bevor man schließlich auch Fallgruben für größere Beutetiere aushub, um diese dann durch Steinigen oder Erschlagen zu töten. Ein größeres Tier in freier Wildbahn aufzuspüren, einzukreisen und mit Keulen, Stichlanzen und Wurfspeeren zu erlegen, erforderte hingegen ein weitaus größeres taktisches und sonstiges jagdtechnisches Geschick.

Das Jagen und das Sammeln von Brennholz, das Zerlegen und Kochen der Nahrung, das Trocknen und Räuchern der Vorräte und schließlich die Herstellung von Gefäßen zu ihrer Aufbewahrung setzte innerhalb einer Horde eine umfassende soziale Organisation und eine entsprechende Kommunikation voraus. Die Kochstelle bildete das räumliche Zentrum der Gruppe, und sie ist damit der Ursprung jeglicher Häuslichkeit. Diese Feuerstelle spendete auch Licht und Wärme, und sie band immer einen Teil der Gruppe an das „Basislager“, da nämlich dieses Feuer eine permanente Pflege und Überwachung mit Entfachen der Glut und Nachlegen von Brennstoff erforderte.

Für Claude Lévi-Strauss war das Problem des Übergangs von der Natur zur Kultur ein zentrales Thema seiner anthropologischen und ethnologischen Betrachtungen gewesen. Die Kultur ist freilich nicht als ein zivilisatorischer und technischer Standard an Weltbewältigung anzusehen, der irgendwann im Laufe der Evolution progressiv und sukzessiv auf die „reine, wilde“ Natur gefolgt wäre und diese dann sogar abgelöst hätte, sondern der anthropos ist a priori ein Kulturwesen, und zwar in jeder Stufe seiner (biokulturellen) Entwicklung. Schon sehr früh hat er jedoch „Natur“ und „Kultur“ als Gegensatz empfunden. Vor diesem Hintergrund beschreibt Lévi-Strauss „das Rohe und das Gekochte, das Hergestellte und das Nicht-Hergestellte“ als „binäre Oppositionen“ innerhalb eines strukturalistischen Systems15. Als Beispiel nennt er das Verhalten der Eingeborenen Guayanas, die ihr Fleisch in einer Räucherhütte haltbar machen und anschließend die Hütte sofort zerstören, „wenn anders die Tiere sich nicht rächen und ihrerseits den Jäger aufspießen sollen“16. Räuchern oder Kochen transformiert Rohkost von der Sphäre der Natur in jene der Kultur. Wenn jedoch das Produkt (Fleisch) dauerhaft ist, muss das Produktionsmittel (Räucherhütte) unbeständig sein und zerstört werden, um wieder eine Symmetrie zwischen Natur und Kultur herzustellen. „Gerade weil die Eingeborenen den Übergang von der Natur zur Kultur im Sinne eines Imperativs ausgleichender Gerechtigkeit auffassen“, müsse der Natur geopfert werden, was ihr doch vorher erst mühsam abgerungen worden sei. „Als Vehikel der Versöhnung“ opfert man hier aber nicht einen Teil der Beute oder der Erträge, die ja Teil der Natur sind, sondern die Räucherhütte als „Mittel der Hervorbringung einer kulturellen Errungenschaft“17.

Nach dem Ende der letzten Eiszeit setzte eine landwirtschaftliche Revolution ein. In der Jung steinzeit breiten sich dann vermehrt bäuerliche Kulturkreise aus. Etwa 7600 vor Chr. züchtete der Mensch das erste Getreide. Als Ursprungsgebiet des Ackerbaus nehmen Archäologen und Frühgeschichtler das Quellgebiet von Euphrat und Tigris an. Vom heutigen türkisch-syrischen Raum drangen die Bauernkulturen wohl bis 6000 v. Chr. ins Balkangebiet vor. Die Bandkeramiker dehnten dann bis etwa 5.300 v. Chr. die Ackerbaugebiete über das gesamte Mitteleuropa aus und verdrängten dort die mesolithischen Jägerstämme.

Die Auswirkungen dieser landwirtschaftlichen Revolution waren ähnlich gravierend wie die Umwälzungen der industriellen Revolution vor 300 Jahren. Der Soziologe Goudsblom beschreibt als Begleiterscheinung der Agrarisierung eine Zunahme kriegerischer Konflikte zwischen Hirtennomaden auf der einen und sesshaften Agrarvölkern auf der anderen Seite.

Kriege wurden alsbald nicht mehr ausschließlich nur um Wasser, Weidegründe und Herden geführt. Häufig verschleppten und versklavten die Sieger fortan die militärisch Unterlegenen als Arbeitskräfte für ihre Plantagen. Erst in solchen Agrarkulturen entstanden hierarchisch differenzierte Gesellschaften mit einer Schichtenbildung, die von Herrscher- und Priestereliten über Krieger zu einfachen Bauern und Sklaven reicht.

SEHNSUCHT UND EMANZIPATION

Neuere archäologische Funde von höchst schmuck vollen Gegenständen legen den Schluss nahe, dass es in der Ur- und Frühzeit durchaus schon zweckfreie künstlerisch-ästhetische Leistungen gegeben hat. Diese Objekte versah man aus reiner Freude an Schönem mit entsprechendem Dekor. Deswegen ist die ältere These, jegliche Kunst sei magisch-kultischen Ursprungs, in dieser Ausschließlichkeit nicht mehr haltbar.

Aber die künstlerische Darstellung von Essbarem hat sicherlich dennoch eine ihrer wichtigsten historischen Wurzeln in der Verbindung mit magischen Opfer- wie Beschwörungsritualen. Die totemistische Bedeutung eines Tieres und die Essbarkeit seiner Spezies sind zwei Seiten einer Medaille. Ess-Tabus und das Anflehen der Götter und Geister um Jagdglück und Nahrung sind zentrale Momente in der Geschichte der Magie und der Religion. Auch später leiten sich Essensmotive zunächst in erster Linie aus religiös-sakralen Bedeutungen ab. Im Spätmittelalter und den folgenden Kunstepochen galten z.B. Bilder von Ernteerträgen als Sinnbilder für die Gaben Gottes. Visualisierungen vom Garten Eden, vom Paradies und vom Schlaraffenland zeigten als Sehnsuchtsmodelle Gegenwelten zu einem Alltag, der durch Missernten und Hungersnöte gekennzeichnet war. „Das Mittelalter schwankte zwischen klösterlicher Askese und kreuzzugsritterlichem Prassen, zwischen fadem Haferbrei und überwürztem Pfauenbraten…“, resümiert Franz Herre18. Rein profane Genre- und Sittenbilder gibt es in der Kunstgeschichte erst nach 1400/1500.

Mit der kulturellen und politischen Emanzipation des Bürgertums im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution ging auch eine kulinarische Emanzipation einher. Die Bürger wollten nun ebenso an den Tafelfreuden einer „Haute Cuisine“ teilhaben, die bisher ausschließlich der Aristokratie vorbehalten war. Boten die Herbergen und Gasthöfe bis dato nur eine recht einfache Verpflegung für Durchreisende, so gründeten nun Ende des 18. Jahrhunderts ehemalige Leibköche des Adels die ersten Gourmet-Restaurants. „Der Adel und die hohe Geistlichkeit hatten in ihren Schlössern und Palästen gespeist, die Bürger zog es aus der Intimität ihrer Häuser in die Öffentlichkeit des Restaurants“19. Und es erschienen zu Beginn des 19. Jh. dann auch die ersten essensphilosophischen und gastro-kritischen Schriften. Balthazar Grimod de la Reynière veröffentlichte zwischen 1803 uns 1812 seinen „Almanach des Gourmands“, und Anthelme Brillat-Savarin publizierte 1825 das Buch „Physiologie des Geschmacks“. Zwei Jahre zuvor hatte in Deutschland der Kunstwissenschaftler Carl von Rumohr sein Werk „Vom Geist der Kochkunst“ vorgelegt.

Will man einer Wechselbeziehung zwischen den sozial- und kulturgeschichtlichen Wandlungen der Kulinarik und der Motivgeschichte in der Kunst nachspüren, so findet man dafür in der Malerei des 19./20. Jh. vielfältige Beispiele. Laut Roswitha Neu-Kock war in der Stilllebenmalerei bis ins 18. Jh. „die Anregung des Appetits stets nur ein Nebeneffekt gewesen“. Marktstillleben belegten die Fruchtbarkeit des Landes und die Wirtschaftskraft einer Region, bestimmte Tiere und Früchte hatten eine emblematische Bedeutung. Doch in der Malerei des 19. Jh. verliert sich schließlich der Symbolgehalt solcher Stillleben – das Sinnlich-Geschmackliche tritt nun verstärkt in den Vordergrund. „Zugleich ist dies die Zeit der ersten Künstlerkochbücher, und es ist vielleicht kein Zufall, dass in der nächsten Epoche, im 20. Jahrhundert, Restaurants und Cafés zur Selbstverständlichkeit des Künstlerlebens werden“20.

Anmerkungen:
1.) s. hierzu „Der Riss im Himmel – Clemens August und seine Zeit“, Ausstellung Schloss Augustusburg Brühl 2000, gleichnamige Publikation im Verlag DuMont Köln 2000.
2.) Stadtrevue Verlag GmbH (Hrsg.), „Tag und Nacht“, Gas tronomieführer Köln, Nr. 13, 2000/2001, S. 8
3.) Ursula Peters, Georg F. Schwarzbauer, „Fluxus – Aspekte eines Phänomens“, Kat. Wuppertal 1982, S. 79/80
4.) s. hierzu Kunstverein Hürth e.V. (Hrsg.), „Vostell-Autoskulpturen im Werk P2“, Hürth 1999, S. 150
5.) Roswitha Neu-Kock, „Kunst und Essen“, in: „atelier – Zeitschrift für Künstler“, Nr. 92, Köln 1997, S. 15
6.) Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hrsg.), „Geschmackssache“, Schriftenreihe Forum Bd. 6, Bonn 1996, S. 67
7.) Corinna Thierolf, „Mach den Mund weit auf ! – Überlegungen zum Thema des Essens in der zeitgenössischen amerikanischen und europäischen Kunst am Beispiel der Sammlung Sonnabend“, Kat. „Amerika Europa -Sammlung Sonnabend“, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München 1996, S. 38
8.) s. hierzu Udo Kittelmann (Hrsg.), „Rirkrit Tiravanija, Untitled, 1999 (Tomorrow is another day)“, Kat. Köln 1996
9.) Franz Herre, „Der vollkommene Feinschmecker – eine Kulturgeschichte des Essens“, Berg. Gladbach 1984, S. 24/25
10.) Rainer Hagen, „Warum blieb Adam hungrig ?“, Zeitmagazin (Ausgabe unbekannt, vor 1998)
11.) zitiert nach: „Karaoke in der Küche“, Interview mit dem Stuttgarter Sterne-Koch Vincent Klink, in: „Der Spiegel“, Hamburg 44/2000, S. 253
12.) Georg Herold „Geld spielt keine Rolle“, Ausstellung Kölnischer Kunstverein 1990, s. „Kunstforum“ Bd. 109, S. 373
13.) Friedemann Schrenk, „Feuer und Menschwerdung“, Vortrag zum Kongress „Feuer“, Forum der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, 26. Okt. 2000
14.) Johan Goudsblom, „Fire in Human History“, Vortrag zum Kongress „Feuer“, Forum der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, 26. Okt. 2000
15.) zitiert nach: Gisela Steinwachs, „Mythologie des Surrealismus oder Die Rückverwandlung von Kultur in Natur“, Neuwied/Berlin 1971, S. 9 ff.
16.) Steinwachs, ebenda, S. 10
17.) Steinwachs, ebenda, S. 11
18.) Herre, ebenda, S. 64
19.) Herre, ebenda, S. 77
20.) Neu-Kock, ebenda, S. 16