Jone Scherf
Monte Verità. Berg der Wahrheit
Von ultralinken Revolutionstheoretikern bis zu esoterischen Weltverbesserern, von elitären Bohemiens bis zu präfaschistischen Künstlern – für mehr als ein Vierteljahrhundert war ein Hügel im Tessin Treffpunkt der extremsten Charaktere ihrer Zeit.
Wie eine Wolke schwebte der “Berg der Wahrheit” über Ascona, dem paradiesisch an den Ufern des Lago Maggiore in der südlichen Schweiz gelegenen heutigen Luxuskurort. Auf dem weiten Gelände des ehemaligen Klosterhügels Monescia erstreckt sich das mit Kastanien, Palmen und tropischen Pflanzen bewaldete Gebiet. Vereinzelt liegen hier das Hotel Semiramis und die ehemals bewohnten Hütten der Monteveritani. In Ascona wurden sie auch “Balabiott” – die Nackten – genannt. A la Robinson Crusoe entstand um 1900 diese Hüttenkolonie, die an die amerikanische Pionierarchitektur erinnert. Denn bereits im 19. Jahrhundert war auch in Europa das Modell der Siedlungsgenossenschaften ritualisiert und ästhetisiert worden – ein wahrer Kult um die Siedlerhütte, die seit Henry David Thoreaus Buch “Walden or Life in the Woods” (1854) als Symbol der Neuen Welt galt.
In diesem landschaftlichen wie klimatischen “Mikroparadies” Monte Verità, dessen “eigenartige geologische Beschaffenheit … eine magnetische Anomalie”1 darstellt, entwickelte sich von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ein südlich gelegenes “Künstlerparadies” für Nordländer. In dieser Zeit strahlte das enorme Potential an Utopien, neuen Lebensentwürfen und umfassenden Weltinterpretationsversuchen, die erprobt, durchlebt und durchlitten wurden, Anziehungskräfte aus, die aus der anfänglich als Sanatorium, Kur- und Freiluftpark auf dem Monte Verità gegründeten “Individualistischen Cooperative” eine Art Gesamtkunstwerk entstehen ließ.
Im Vergleich zu anderen um 1900 entstandenen Künstlerkolonien – beispielsweise Worpswede im Teufelsmoor…