vorheriger
Artikel
nächster
Artikel
Titel: Schönheit I · von Martin Seidel · S. 104 - 131
Titel: Schönheit I , 2008

Martin Seidel
Natur, Kunst und Künstlichkeit

Bezugssysteme künstlerischer Schönheit

Künstlerische Formgebung hat zwei große Bezugssysteme: die in solchen Zusammenhängen Natur genannte äußere “Wirklichkeit” und die Kunst als Abstraktion von der Natur oder freie Setzung. Schönheit ist dabei zu verorten zwischen Naturnachahmung und Naturüberwindung, zwischen Realismus und einem Idealismus, der seinerseits an Klassizismen, Manierismen oder Surrealismen orientiert sein kann.

Schönheit lässt sich nicht verordnen. Aber es gab immer Ideal- und Normvorstellungen. Das um 1235 entstandene Bauhüttenbuch des französischen Baumeisters Villard de Honnecourt zeigt, wie die mittelalterliche Kunst mit ihrem starken religiösen Jenseitsbezug von der Natur abstrahierte und geometrische Schemen zur Komposition der Figuren bereitstellte. Der byzantinischen Kunst lag ein Drei-Kreise-Schema zugrunde. Die Proportionsschemen von Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer und später Le Corbusier folgten in einer Mischform Maßverhältnissen, die eine ideale Quintessenz des Natürlichen bildeten, von nachfolgenden Künstlergenerationen aber nicht mehr angewendet wurden.

Antipoden

Die Theoretiker des Manierismus schätzten in einem unserm heutigen Kunstverständnis oft nahe liegenden Sinn die äußere Wirklichkeit und ihre naturgetreue Nachahmung gering. Giorgio Vasari empfahl die Imitation anderer Künstler und die Hervorbringung einer inneren, in der geistigen Anschauung entwickelten Bildvorstellung. Entsprechend stellten die Manieristen die Kunstfertigkeit (“artificio”) und die originelle Bilderfindung (“invenzione”) natürlich über das Sujet und seine (natürliche) Darbietung. Michelangelo, Parmigianino, Tintoretto oder El Greco folgten in der Proportionierung ihrer athletischen Figuren, in extremen Perspektiven, unübersichtlichen Raumauffassungen, virtuosen Verkürzungen und dramatischen Lichtsituationen entsprechend nicht der Natur und der Welt der Phänomene, sondern sowohl dem Vorbild der Antike als auch einem ‘intellektuellen Maß’ (“misura intelletuale”, Vincenzo Danti). Das die künstlerischen Absichten…


Kostenfrei anmelden und weiterlesen:

  • 3 Artikel aus dem Archiv und regelmäßig viele weitere Artikel kostenfrei lesen
  • Den KUNSTFORUM-Newsletter erhalten: Artikelempfehlungen, wöchentlichen Kunstnachrichten, besonderen Angeboten uvm, jederzeit abbestellbar
  • Exklusive Merklisten-Funktion nutzen
  • dauerhaft kostenfrei