Utopische Lebens(t)räume
Visionen einer besseren Welt
Eine Bildstrecke von Ann-Katrin Günzel
Architektur / Lebens(t)räume – Wie und wo wollen wir leben?
Ein wesentlicher Aspekt utopischer Lebensraumentwürfe manifestiert sich in der Kunst besonders sichtbar in der Architektur. Hier entstehen zahlreiche Visionen einer besseren Welt, die heute nicht mehr nur ein ausgefallenes futuristisches Formenvokabular benutzen, sondern vor allem versuchen, nachhaltige Konzepte des Zusammenlebens zu entwerfen. Angesichts der Tatsache, dass die Probleme hinsichtlich des Wohnraums in den Städten, aber auch bezogen auf zunehmende Naturkatastrophen und die sich daraus ergebenden Landverluste und Zerstörungen von Lebensraum durch Stürme, Meeresspiegelanstieg und Dürren immer größer werden, sind Lösungen gefragt, die nicht nur zusätzlichen Lebensraum schaffen, sondern die diesen destruktiven Prozessen bestenfalls – utopisch – aktiv entgegensteuern und dabei neuen Lebensgemeinschaften Platz schaffen.
Atelier van Lieshout
2001 hatte Joep van Lieshout am Rotterdamer Hafen die rechtsfreie Stadt AVL Ville gegründet, um mit Autonomie dem herrschenden, kapitalistischen System etwas entgegenzusetzen. Diese versuchte Utopie einer alternativen Lebenswelt scheiterte allerdings an der Realität – der rechtsfreie Raum der Anarcho-Stadt, eine Insel für Kreative mit eigener Verfassung und eigener Währung, wurde von der Stadt Rotterdam innerhalb eines Jahres wieder geschlossen und die zuvor erteilte Genehmigung wieder entzogen. Utopische (und dystopische) Alternativen zur Realität, in der wir leben, entwirft das niederländische Künstlerkollektiv Atelier van Lieshout allerdings weiterhin, vor allem provokante, nicht selten in Körperformen gestaltete, begehbare Skulpturen. Bereits seit 1995 entstehen in Rotterdam im AVL aber immer wieder auch utopische Szenarien, wie z. B. der Autokrat (1995), der Ausgangspunkt für die AVL Ville war, das „ Pioneers Set“ (1999) oder die schwimmende „Floating Sculpture“ (2001), allesamt Mikrokosmen zum alternativen Überleben in der Alltagswelt, die heute, in Zeiten knappen Wohnraums und zunehmender Vertreibung aufgrund klimabedingter Naturkatastrophen, wieder von brisanter Aktualität sind.
Mit ihnen kann / könnte man sich in der Zukunft einen Platz überall dort suchen, wo Bewohnbarkeit noch gegeben ist. Auch die bekannte „Slave City“ (2005 – 09), nennt sich ein utopisches Projekt, das als Stadt für 200.000 Einwohner geplant war. Die Sklavenstadt sollte sich auf 60 km² erstrecken, war ökologisch durchdacht und darauf ausgelegt, den eigenen Energiebedarf zu decken.
Das, was zunächst utopisch klingt, kippte allerdings – wie es ja bei Utopien durchaus passieren kann – ins Dystopische, in ein Gefangenenlager, in dem die Menschen von Individuen zu Teilnehmern werden, die einen streng vorgegebenen Tagesrhythmus mit Arbeitsstunden zu absolvieren haben, um die Stadt am Laufen zu halten und die Gewinne zu maximieren. Menschen werden hier in einem brutalen, gefühllosen System zu einer Ressource, bis dahin, dass sie bei ihrer Ankunft nach Nützlichkeit „sortiert“ und gegebenenfalls biologisch recycelt werden. Diese Pervertierung der auf Profitmaximierung ausgerichteten Gesellschaft zeigt Effizienz, Disziplinierung und Selbstversorgung unter totaler Kontrolle und damit die nichtige Rolle des Menschen als unfreier, funktionierender und funktionaler Arbeiter im kapitalistischen System.
Dionisio Gonzáles
Der spanische Künstler Dionisio Gonzáles (*1965, Gijón) kombiniert in digitalen Fotomontagen utopische Architekturen an Orten, die entweder bereits von charakteristischen Architekturen geprägte, städtische Räume oder aber Ansiedlungen darstellen, an denen die Bewohner klimabedingten Naturkatastrophen ausgesetzt sind und daher spezielle, utopische Überlebensräume benötigen. So hat er z. B. 2011 für die Dauphin Islands unwetterresistente Gebäude entworfen: futuristische Festungen in geschwungenen Formen aus Beton, Eisen und Glas als Alternative für die den Wirbelstürmen und Starkregen ausgesetzten, vorhandenen Holzhäuser. Diese widerstandsfähigen amorphen Strukturen überraschen und faszinieren durch ihre wie schwere Stoffe übereinandergeworfenen, zusammengedrückten, kurvigen Formen. In den „Inter-Acciones“ hingegen hat González Strukturen geschaffen, die ebenfalls Lebensräume für den Menschen darstellen und dabei die schonende Nutzung der vorhandenen Ressourcen anstreben, während sie gleichzeitig mit der Umwelt symbiotisch verschmelzen. So sieht man utopische Häuser in nicht näher definierten Landschaften, welche karg und unwirtlich ganz offenbar keine solide Basis für die aufgestelzten Behausungen darstellen, die ihrerseits wie außerirdische Objekte dort gelandet sind und ohne die sie umgebende Landschaft zu stören, Lebensraum bereitstellen.
Vincent Callebaut
Der belgische Umweltarchitekt Vincent Callebaut (*1977) entwirft utopische Architekturvisionen, die sich ebenfalls der ökologischen Nachhaltigkeit wie erneuerbarer Energie, Upcycling oder des ressourcenschonenden Zusammenlebens verpflichten. Schwimmende Städte, Ozeankratzer oder vertikale – und damit platzsparende – Farmen sind die Visionen des Architekten. Sein Ziel ist eine Zukunft in einem energiesparenden, kohlenstoffabsorbierenden Lebensraum, um die globale Erderwärmung zu bekämpfen. Zu seinen berühmtesten Projekten gehören die schwimmenden Lilipads (2008 – 17), die für 50.000 Klimaflüchtlinge entworfen wurden.
Es sind Inseln nach dem Vorbild von Seerosenblättern, die beim Meeresspiegelanstieg als Lebensräume dienen können – ein „biotechnologischer Prototyp ökologischer Widerstandsfähigkeit, der dem Nomadismus und der Stadtökologie im Meer gewidmet ist. Er reist auf der Wasserlinie der Ozeane.“ (www. vincent.callebaut.org) Hier wohnen die Menschen zusammen mit der Natur in einem recyclebaren, ozeanischen Ökosystem. Auch „Tao Zhu Yin Yuan“ ein kohlestoffabsorbierender vertikaler Wald, den Callebaut zurzeit in Taipei bauen lässt (2020 / 21) versucht die CO2 Emissionen in Industrie, Verkehr und Alltag zu reduzieren. Der energieautarke Turm ist in der Doppelhelixstruktur der DNA gebaut und verkörpert damit die Philosophie der Lebensquelle in 20 bewohnbaren Ebenen mit je 2 Wohneinheiten, die um 90 Grad gedreht sind. Mit insges. 23.000 Pflanzen werden jährlich 130 Tonnen Kohlenstoff absorbiert.
Utopiastadt Wuppertal
Pittoresk auf einem Hügel, im Norden der Stadt Wuppertal, liegt der alte Mirker Bahnhof, ein Backsteingebäude, das lange leer stand, bis es 2011 von dem Kommunikationsdesigner Christian Hampe gemeinsam mit einer Gruppe junger Leute erschlossen wurde, um hier Utopien wahr werden zu lassen. Sie nennen sich Utopisten, die Bewohner der UtopiaStadt Wuppertal, in der es vor allem um Miteinander, um Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und in diesem Sinne um ein gutes Leben geht. UtopiaStadt ist ein Prozess, „ein andauernder Gesellschaftskongress mit Ambitionen und Wirkung“, d.h. Menschen können hier zusammenkommen, Ideen austauschen, Aktionen verwirklichen, ein ThinkTank, der nicht auf der theoretischen Ebene verbleibt, sondern ganz konkret über urban gardening, Repair-Cafè, Kulturprogramm, Co-Workings-Spaces, Bienenstöcke und Fahrradwerkstatt nachhaltige Stadtentwicklungsstrategien erprobt. Praktisch bedeutet das viel Arbeit, denn die Utopisten leben autark, finanzieren sich selbst, erschließen, bauen, reparieren in Eigenregie – ein Ort, an dem Zusammenarbeit und -leben ein brauchbarer Zukunftsentwurf ist.
Sven Johne
Der Künstler Sven Johne (*1976) thematisiert in seiner Foto-Serie „Traumhotels“ (2011) die utopische Vorstellung von Orten, an die man für die Vision eines besseren, schöneren, vielleicht problemlosen und unbeschwerten Lebens vor der Realität fliehen möchte. Durch das geöffnete Fenster sieht man vom Bett aus auf das blaue Meer, auf eine sonnenbeschienene Küste, der Wind weht leicht im Stoff der Gardine. Ruhe und Schönheit treffen sich hier.
Es handelt sich um Hotelzimmer auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, die Touristenziel von Urlaubsreisenden ist, gleichzeitig aber auf der Fluchtroute von Bootsflüchtlingen liegt und durch das tragische, oft tödliche Schicksal vieler Schutzsuchender bekannt geworden ist. Der brisante Dualismus von Geborgenheit und Gefahr, Glück und Tragödie wird hier nur angedeutet. In beiden Fällen liegt er als „anderer Ort“ jenseits der gelebten Realität und verkörpert eine traumhafte Sehnsucht, doch was für die sowieso schon Heimat losen eine nahezu unerreichbare Utopie darstellt, eine mit Hoffnungen beladene Über-Lebens-Destination, ist für die Urlauber ein exquisiter Ferienort luxuriöser Sorglosigkeit zum Ausspannen und Träumen.
Cities of Refugees
Angesichts der Tatsache, dass mittlerweile 70 Mio. der 7,8 Milliarden Menschen auf der Erde Geflüchtete und Asylsuchende sind, die eine neue Heimat brauchen, hat sich ein dreijähriges Forschungsprojekt der University of Houston unter der Leitung von Peter J. Zweig und Gail P. Bordon mit der Entwicklung von Lebensraum für diese Menschen beschäftigt und die Ergebnisse 2020/21 in einer Ausstellung im Aedes Architekturforum in Berlin gezeigt. Unter dem Titel „Cities of Refugees. Vier utopische Städte auf vier Kontinenten“ wurden utopische Städte in Afrika, Asien, Europa und Süd-Amerika entworfen, die in einer Neuinterpretation von Morus’ Utopia Orte darstellen, die über das Schicksal der aus ihrer Heimat Vertriebenen hinausreichen, wobei jeweils lokale Traditionen eine große Rolle spielen.
Entstanden sind utopische, globale Orte der Selbstbestimmung, Räume für multiethnische Gesellschaften, die auf Gerechtigkeit und Toleranz basieren, wirtschaftlich tragfähig und CO2 neutral sind. Zum Teil könnten diese Orte in Grenzgebieten liegen, Landstrichen, die als „Niemandsland“ bezeichnet werden und den Geflüchteten zur Verfügung gestellt werden. Die Utopie liegt in der Durchmischung von lokalen Traditionen mit neuen Ideen, gesellschaftlicher Toleranz, Engagement und Miteinander. Mit den utopischen Städten sollen sowohl die unmittelbaren Bedürfnisse der Geflüchteten als auch ihre langfristige Eigenständigkeit gefördert werden.
So liegt „gRADIANT City“ z. B. am Rande des Eduardsees im Osten der Demokratischen Republik Kongo an einem steilen Hang, an dem entlang sich die Stadt wie ein horizontaler, über die Landschaft breitender Wolkenkratzer zieht, „dessen eingeschlossene und schwebende Programme für Schatten sorgen und unter der performativen Dachkonstruktion eine verbindende Schicht bilden“. Eine utopische Typologie verbindet sich in dem Entwurf mit lokalen Traditionen.
Gesellschaftliche Utopien
Ein anderer Ausdruck neuer Lebensraumentwürfe sind neben den architektonischen Entwürfen die Utopien alternativer gesellschaftlicher Lebensformen. Wenn Künstler*innen eine bessere Welt erträumen und über Alternativen zu den bestehenden (Herrschafts)Strukturen nachdenken oder neue Lebens-Möglichkeiten entwerfen, dann geht es weniger um Techno-Utopien und das ewige Leben, KI oder den künstlichen Menschen, welche in der Kunst alle eher kritisch bis dystopisch refl ektiert werden, als vielmehr um gesellschaftliche Utopien: um neue Formen von Gemeinschaft, eines Zusammenlebens, das frei von Rassismus, Sexismus und Formen des Kolonialismus, frei von Normen und Gender-Grenzen ist, es geht um Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sowie auch fokussiert um die damit einhergehende Umweltproblematik einer vom Menschen ausgebeuteten Natur, deren Rettung oberste Priorität hat und unumgänglich ist, will man alle anderen Bereiche in eine bessere Welt überführen.
Denn unser Leben und unser Miteinander als Gesellschaft ist untrennbar mit dem Klima und der Natur verwoben und immer auch von unserer Haltung gegenüber Tieren und allen nichtmenschlichen Einheiten betroffen. Vernachlässigt man das Gewebe an einer Stelle, so dass ein Faden sich löst, dann wird automatisch auch an anderen Stellen das Gefüge locker und schließlich auseinanderfallen. Alles hängt mit allem zusammen. Sieht man auf den langfristigen Nutzen einer bewohnbaren, gerechten Welt, so können Utopien, Pläne und Entwürfe entstehen, die im Szenario einer besseren Welt eine Welt voller Gemeinsamkeiten, neuer Möglichkeiten und Verbindungen beschreiben und entwerfen.
Feral Atlas
Die Initiative Feral Atlas, gegründet und kuratiert von der Anthropologin Anna L. Tsing, der visuellen Anthropologin Jennifer Deger, dem Umweltanthropologen Alder Kelemann Saxena und der Architektin Feifei Zhou versucht, unter der Fragestellung, in welcher Welt wir leben wollen, eine neue Sicht auf die Welt und ihre Zusammenhänge zu gewinnen, indem die Untersuchungen unserer permanenten Eingriffe in die Natur zu einem Verständnis der daraus erwachsenen Veränderungen führen.
Feral Atlas lädt dazu ein, ökologische Welten zu entdecken, sog. „wilde Reaktionen“, Verflechtungen, die daraus entstehen, wenn nicht-humane Einheiten mit menschengemachten Infrastrukturen in Berührung kommen – wenn also z. B. über Langstrecken-Transporte lebendige und nicht-lebendige „blinde Passagiere“ ihr Ökosystem wechseln, weil sie zufällig in Zügen und auf Frachtschiffen eingeschleppt werden, wenn sich Müll oder giftige Abwässer ansammeln und dabei mit Schadstoffen das Land und die Luft verändern, spezielle Gräser nach Bränden sprießen und damit bestimmte Wildtiere anlocken oder Kolonialplantagen die Landschaften in (Zucht-)Gitter verwandeln und dabei unbeabsichtigt Schädlinge und Krankheitserreger mit züchten. Durch die Aufmerksamkeit, die gegenüber diesen Entwicklungen entsteht, kann gleichzeitig auch Verantwortung für das Anthropozän aufkommen, denn diese Landschaftsveränderungen erfordern alternative Lesarten, wenn die Auswirkungen des Anthropozäns für eine konstruktive Veränderung beobachtet und verstanden werden will – um im nächsten Schritt zu einer Verbesserung der Welt, in der wir momentan leben zu führen.
ruangrupa
Wie elementar und aktuell die Werte der Kollektivität und Gemeinschaft in der Kunst sind und wie eng die Verschränkungen ökologischer, feministischer, rassismuskritischer und genderpolitischer Thematiken dabei auftreten, zeigt ganz aktuell das kuratorische Konzept des indonesischen Künstler*innen-Kollektivs ruangrupa aus Jakarta, das die documenta 15 in Kassel für 2022 vorbereitet. Ruangrupa folgt den Grundsätzen von aktiver Kollektivität, Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung. Nach dem Prinzip des lumbung, eines auf dem Land in Indonesien verbreiteten Bauwerks, das man mit „Reisspeicher“ übersetzen kann, geht es darum, einen Schmelztiegel von Gedanken, Ideen und Energien zu schaffen, in dem – so wie im lumbung selbst die Ernte einer Gemeinde als gemeinsame Ressource für die Zukunft zusammengetragen, gelagert und nach gemeinsamen Kriterien verteilt wird – Wissen und Erfahrung geteilt werden. Es geht um Begegnungen, Gespräche, Solidarität und kollektive Entscheidungsfindung, nicht nur für die 100 Tage der Ausstellungsdauer, sondern – in einem ganz und gar utopischen Sinne, bereits im Vorfeld und für die Zukunft. Das Credo der Gruppe ist: „We cannot afford the time to prepare – we need to act as soon as possible.“
Musea bekennen kleur
Die Beschäftigung mit kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart sind als Grundlage der Utopie einer gesellschaftlichen Veränderung spätestens mit der stark in die Öffentlichkeit vordringenden Black-Lives-Matter-Bewegung nach dem brutalen Mord an dem Afroamerikaner George Floyd, 2020 auch in der Praxis der westlichen Museumsgeschichte angekommen, die bis dato mit überwiegend eurozentrischen Ausstellungen häufig bereits etablierte, ihre Position verteidigende männliche Stars der westlichen, weißen Kunst(geschichte) präsentier(t)en, und den in eine europäische und eine außereuropäische Kunstgeschichte aufgeteilten Kanon mit dementsprechenden Sehgewohnheiten bedient. Inzwischen geht es vielerorts in der Museumspolitik sowohl um die Restitution in der Vergangenheit geraubter Kulturgüter als auch um die Re-Präsentation von Gegenwartskunst sogenannter „Minderheiten“.
Mit „Musea bekennen Kleur“ (Museen bekennen Farbe) haben eine wachsende Anzahl niederländischer Museen 2020 eine diskursive Plattform geschaffen, die darum bemüht ist, in verschiedenen Ausstellungen auf Sklaverei und Kolonialismus hinzuweisen. Zu ihnen gehört auch das Bonnefanten Museum, das mit der Ausstellung „Say it loud“ internationale künstlerische Positionen präsentiert, die sich ganz unterschiedlich auf die koloniale Vergangenheit beziehen.
She BAM!
Da die Kunstwerke weißer männlicher Künstler noch immer weitaus höhere Preise erzielen, Künstler häufiger zu Museumsausstellungen eingeladen werden als Künstlerinnen, mehr Preise und Stipendien bekommen und sich mit größerem Selbstverständnis im Kunstdiskurs behaupten, hat die französische Grafikdesignerin Laetitia Gorsy 2018 in Leipzig die Galerie She BAM! ins Leben gerufen, um ausschließlich die Werke von Künstlerinnen auszustellen und damit ein Zeichen und dem System etwas entgegen zu setzen sowie den nach wie vor marginalisierten, unterrepräsentierten Frauen in der Kunst Raum zu geben, damit sich die Situation in Zukunft in eine andere Richtung entwickeln kann.
Bewusst nimmt sie selbst mit dieser Schwerpunktsetzung einen ungewöhnlichen Platz im Kunstmarktgeschehen ein, das ebenfalls von Männern dominiert wird und in dem auch Galeristinnen mehrheitlich männliche Künstler ausstellen – obwohl inzwischen über 50 % der Absolvent*innen von Kunsthochschulen weiblich sind. 1989 haben die Guerilla Girls die gar nicht so provokante Frage gestellt, ob Frauen nackt sein müssen, um einen Platz im Museum zu bekommen – und festgestellt, dass die Chancen damit rasant steigen: während nur 5 % der vertretenen Kunstproduzent*innen weiblich waren, waren 85 % der nackten Körper, die im selben Museum zu sehen waren, von Frauen.
Die seit 1985 anonym operierende Künstlerinnengruppe mit den Gorillamasken trägt die Pseudonyme berühmter Künstlerinnen, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich selbst, sondern auf ihre Arbeit zu lenken. Anfang 2020 hat Laetitia Gorsy mit den Guerilla Girls eine Ausstellung in She BAM! gemacht, in der in schwarzen Lettern die Vorteile zu lesen waren, die es mit sich bringt, eine Künstlerin zu sein… u. a.: die Möglichkeit zu haben, zwischen Karriere und Mutterschaft zu wählen oder sich nicht der Verlegenheit unterziehen zu müssen, ein Genie genannt zu werden.
POSTOST
Die Performance „POSTOST 2O9O – eine ossifuturistische Retrospektive“ der Choreografin und Performerin Rike Flämig, greift ehemalige Zukunftsentwürfe und feministische Utopien der Frauen- und Bürgerrechtsbewegung der Jahre 1989 / 90 auf und untersucht damit die Möglichkeit utopischer Zukunftsgestaltung. 100 Jahre nach den feministischen Utopien der „Aufbruchjahre“ werfen die beteiligten Künstlerinnen Blicke aus der ostdeutschen Perspektive zurück in die Jahre 2042, 2063 und 2082, um festzustellen, dass ehemals visionierte feministische Utopien, wie z.B. die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern, tatsächlich irgendwann eingetreten sind.
1989 / 90 aus den zerbrochenen DDR-Strukturen heraus gegründete Gruppen, wie der Unabhängige Frauenverband (UVB), verfolgten damals die Utopie der aktiven Mitbestimmung gesellschaftlicher Prozesse – die Rolle der Frauen sollte in einer zu diesem Zeitpunkt gemeinsam zu entwerfenden Gesellschaft direkt neu gedacht werden – um dann allerdings in der Geschwindigkeit der deutschen Einheit mit im Westen etablierten Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit eines patriarchalen Systems unterzugehen. Die Forderungen und Vorstellungen der Frauen damals, am Ende der DDR, werden jetzt in POSTOST 2O9O erneut als Utopien ins Spiel gebracht, indem die Fragen, welche Zukünfte denn von damals aus imaginierbar waren und wie sie heute mit gegenwärtigen queerfeministischen, intersektionalen Feminismen neu gemischt werden könnten, aufgeworfen werden.
Juliana Huxtable
Die gesellschaftliche Utopie der USamerikanische Performancekünstlerin, Autorin und DJane Juliana Huxtable hat sich aus einem biografischen Selbstverständnis und der daraus hervorgehenden Notwendigkeit, herrschende Normen und Zwänge bezüglich binär festgelegter Geschlechterrollen in der Gesellschaft zu verändern, entwickelt. In Texas als intersexuelles Kind geboren und als Junge erzogen, lebt die Künstlerin heute als Frau in New York und Berlin, wo sie die Schnittstellen von Rasse, Gender, Queerness und Identität künstlerisch inter- bzw. multidisziplinär in Texten, Performances, Musik, Social media und dem Nachtleben auslotet. Während sie soziale Normen und kategorische Festlegungen kritisiert, gibt sie alternative, hoffnungsvollere Möglichkeiten, „safe spaces“, in denen Ängste abgebaut werden können, so dass langfristig eine gerechtere und vielfältigere Gesellschaft entstehen kann.
Angie Hiesl und Roland Kaiser ID-clash
Die Performancekünstler Angie Hiesl und Roland Kaiser haben mit ID-Clash 2013 (wenige Wochen vor der formaljuridischen Anerkennung des Dritten Geschlechts) ein interkulturelles Projekt zum Thema Transidentität durchgeführt und damit den utopischen Raum einer gesellschaftlichen Realität geöffnet, in der es Alternativen zu den herrschenden heteronomen Vorstellungen der Zweigeschlechtlichkeit gibt.
In einem Gewächshaus am Rande von Köln angesiedelt, wurde die Zersetzung der Zuchtzonen thematisiert – Blumentöpfe mit Bezeichnungen für nichtbinäre Geschlechtsidentitäten ließen Vielseitigkeit wachsen. Auch wenn heutzutage ein drittes, neutrales Geschlecht in (fast) jeder Stellenausschreibung genannt wird, so sind wir doch weit entfernt von einer Realität, in der wir Geschlechternormen in Form von Zuschreibungen und Kategorien von „Mann“ und „Frau“ verlassen hätten.
Die Akteur*innen der Performance kamen aus unterschiedlichen Kulturen und erzählten von ihren zum Teil identischen Problemen, von der Gewalt, mit der sie bedroht werden, der Ausgrenzung und den Normen, mit denen sie permanent konfrontiert sind und die ihre freie Entfaltung behindern. Sie erzählten von ihrer Vision einer Welt, die, wie Michella Niwicho es stellvertretend für sie formulierte, von Respekt und Akzeptanz geprägt ist, „in der jeder leben kann, wie er möchte, ohne ausgegrenzt, vorverurteilt oder belächelt zu werden.“ Durch ihre Erzählung und ihr freies Handeln, das die Zuschauer einlud, sich mit der Fragilität von Geschlechterzuweisungen auseinanderzusetzen sowie sich mit eigenen Normen zu konfrontieren und sie zu hinterfragen, entwarf die Performance die Utopie einer freien Gesellschaft, in der es normal ist, zweigeschlechtlich zu sein, Trans Gender oder Gender Queer.
Rimini Protokoll: Utopolis
Die Performance-Gruppe Rimini Protokoll hat sich die Frage gestellt, was für Utopien wir uns im 21. Jahrhundert denken können und wie eine ideale Welt heute aussehen kann. In ihrer Antwort, „Utopolis“, nimmt sie die Zuschauer mit auf eine Reise durch ihre Stadt und lädt sie ein, für einen Abend lang Kurs auf gemeinsame oder sich widersprechende Utopien zu nehmen. An 48 unterschiedlichen Orten in der Stadt versammeln sich zunächst kleine Zuschauergruppen um je einen tragbaren Lautsprecher. Die Menschen befragen die Räume danach, was sie zu dem gemacht hat, was sie sind – und wie sie anders sein könnten: Wie sprechen wir Recht und wie erlassen wir Gesetze? Wie organisieren wir Wissen und wie bereiten wir kommende Generationen auf die Zukunft vor? Woran glauben wir? Wie wollen wir zusammenleben? Gemeinsam werden hunderte von Zuschauer*innen zu Co-Autor*innen der flüchtigen Utopien dieses Abends. Am Ende sind nicht nur die utopischen Visionen angewachsen, sondern auch die Menschenmenge, in der sie sich auf einem zentralen Platz zum Klang der 48 Lautsprecher versammeln.
Kleinerbiermann
Die beiden Künstler Tomas Kleiner (*1990) & Marco Biermann (*1984), die als performatives Kollektiv zusammenarbeiten, haben 2018 in ihrer Abschlussarbeit von der Akademie in Düsseldorf einen „Unter Wasser- Lebensentwurf“ vorgestellt und damit eine unbeschwerte Alternative zu unserem – häufig dystopischen – Alltag hervorgebracht. Die mit steigenden Meeresspiegeln einhergehende Klimakatastrophe haben sie zum Anlass genommen, mit alternativen Lebenspraktiken zu experimentieren und diese utopische Version für ein paar Tage, herausgelöst aus dem Alltag der anderen, aber dennoch für alle sichtbar, vorzuführen. Damit wird eine Diskursplattform für neue Möglichkeiten geöffnet, denn der mit 26.000 Litern Wasser gefüllte, 12 qm große Container, in dem die beiden lebten, wirkte in seiner Isolation wie die Umkehrung der Insel „Utopia“. Das Experiment bedeutete ein Aussteigen aus der bekannten Welt und das „Untertauchen“ in ein neues, unbekanntes und für den (noch) kiemenlosen Menschen erstmal schwieriges und dennoch faszinierendes Umfeld, das einerseits die vom Menschen schon umfangreich ruinierte Welt der Ozeane evoziert, andererseits in dem abgeschlossenen, quasi unerreichbaren Idyll, Ruhe und Gelassenheit der Stille unter Wasser versprechen.
Unter dem Titel „Jukai-Ryokō“ haben die beiden dann 2020 ein reisendes Meer aus Bäumen erschaffen, das eine humorvolle und zugleich ernsthafte Utopie für die Umwelt in dystopischen Zeiten darstellt. Aufgrund der Tatsache, dass die Pflanze nicht, wie Mensch oder Tier, vor Wirbelstürmen, Starkregen, Hitzewellen oder Eiseskälte flüchten und Schutz suchen kann, sondern all dem immer ausgesetzt ist, haben sie nach Lösungen gesucht, um die vielbetonte Handlungsmacht im Anthropozän als Agency für die Pflanzen einzusetzen und ihnen damit sprichwörtlich auf die Sprünge zu helfen. Entstanden ist eine zwischen-pflanz-menschliche Kommunikation, die der Birke eine Bewegungsfreiheit verschafft, welche auch mal dazu führen kann, dass man von ihr angerempelt wird, oder aber ihre Zweige einem sanft durchs Haar streichen. Es entsteht eine neue, utopische Performativität der Pflanzen, die als reisende Insel, fliegender Busch oder kreiselnde Topfpflanze ein neues, gleichberechtigteres Verhältnis zwischen Menschen und Pflanze ermöglicht.
Christine und Margaret Wertheim: Crochet Coral Reef
Das Crochet coral Reef der Zwillingsschwestern Christine und Margaret Wertheim, die 2003 das Institute for Figuring (IFF) ins Leben riefen und seitdem mit tausenden Helfer*innen an einem weltumspannenden Korallenriff häkeln, hat seine utopische Qualität vor allem in der Tatsache, dass aus gemeinsamer Arbeit ein positives Projekt hervorgeht. Es zeigt die Schönheit und die Kraft kollektiver Aktion. So wie das echte Korallenriff nicht von einer einzelnen Einheit geschaffen wurde, sondern eine Kombination aus tausenden kleinen Beiträgen ist, so ist auch das gehäkelte Korallenriff das Produkt vieler Hände, vieler Vorstellungen und unendlich vieler Stunden Arbeit. Das Projekt ist, so Margaret Wertheim im Gespräch, eine Metapher dafür, wie die Menschen der Zukunft begegnen müssten: statt über plötzliche technische Lösungen der Klimakatastrophe zu fantasieren, sollten wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir Veränderungen durch ein Miteinander bewirken können. „So wie die Natur, bietet unser Projekt ein Modell auf der Grundlage der Interaktion mit und der Abhängigkeit voneinander an. Genau wie die Korallen sind wir Menschen verloren, wenn wir nicht mehr positive Wege des Zusammenlebens auf der Erde finden. In a sense, “we are all corals now.” (Margaret Wertheim im Gespräch mit der Autorin, 2021)
Superflux
Das von Anab Jain und Jon Ardern gegründete anglo-indische Studio Superflux, das aus Designer*innen, Forscher*innen und Technolog*innen besteht, widmet sich in einer Welt, die von der Klimakatastrophe und Nahrungsmangel bedroht ist, Zukunftsvisionen, die sich den Herausforderungen stellen, gleichzeitig aber Möglichkeitsräume eröffnen und hoffnungsvolle Träume für die Gestaltung der Zukunft wagen. In Zusammenarbeit mit dem Londoner Sommerset House führt Superflux derzeit die Initiative „Young Producers“ durch, in der junge Leute aufgefordert sind, utopisch zu denken und sich konkret Gedanken über eine hoffnungsvolle Zukunft zu machen.
Zu den Arbeiten von Superflux zählen Projekte wie „Mitigation of Shock“ (2020), das den Entwurf einer Londoner bzw. einer Wohnung in Singapur im Jahr 2050 darstellt, wenn Klima und Nahrung sich verändert haben werden. Gemeinsam mit Forschern und Wissenschaftlern hat Superflux Daten ausgewertet und daraus einen zukunftstauglichen Raum gebaut, mit Lebensmittelcomputern, die aus dem Abfall einer technologischen Utopie improvisiert wurden, welche nie ganz angekommen ist und die Nährstoffnebel kontrollieren, mit dem Pflanzen und Pilze im häuslichen Umfeld als Nahrungsquelle gezüchtet werden können. Das Projekt „The Future starts here“ (2017) realisierte Superflux für das Victoria and Albert Museum. Es besteht aus insges. 6 Filmen und einem interaktiven Badezimmerspiegel und beabsichtigt, das Bewusstsein für technologische Auswirkungen zu schärfen sowie die Zukunft als Reise und nicht als Ziel darzustellen, als einen Prozess, der Raum für vielfältiges Potential bereithält.
Chiharu Shiota
Die Künstlerin Chiharu Shiota (*1972) hat mit „I hope…“ jüngst eine raumgreifende Installation in der im Schiff von St. Agnes beheimateten KÖNIG Galerie in Berlin gezeigt, deren utopisches Potential in der Aktivierung der persönlichen Hoffnungen und ihrer Zusammenführung in ein Bild gemeinsamer Wünsche und Vorstellungen für die Zukunft liegt. Von der Decke hängende rote Wollfäden mit tausenden daran befestigten Briefen, welche die Künstlerin mit dem Anfang „I hope…“ als Aufforderung zur Formulierung der eigenen Hoffnungen, Wünsche und Ziele für die Zukunft gesammelt hat, füllten mit ganz individuellen Zukunftsvorstellungen den Raum.
Diese 10.000 hoffnungsvollen Botschaften versammelten sich als einzelne Fragmente und bildeten, gemeinsam mit gitterhaften und daher durchlässigen Strukturen von schwebenden Booten in einem nicht näher bestimmbaren Raum, einer U-topia, ein Kollektiv gemeinsamer Hoffnungen. Damit wurden sie auch zu einem Bild dessen, was für jede / n einzelne / n in der Zukunft bedeutend, existentiell vielleicht, bewahrens- oder erstrebenswert ist, zu einem Speicher der Wünsche und zum Symbol einer gemeinsam gestalteten Welt geworden, das „Prinzip Hoffnung“ als die Utopie einer besseren Welt verkörpernd.