Kassel: Documenta-Eröffnung

8. Juni 2017 · Aktionen & Projekte

„Wenn wir ‚ästhetisch‘ als hübsch und oberflächlich in einem kosmetischen Sinne definieren, so spielt eine solche Ästhetik bei dieser Documenta keine Rolle“, gab Adam Szymczyk zu, künstlerischer Leiter der diesjährigen „zwei-ortigen, nicht-nationalen Documenta“ in Athen und Kassel. „Wir interessieren uns für Strukturen und Texturen, nicht für Oberflächen.“ Fast drei Stunden dauerte die Pressekonferenz zur Eröffnung des Kasseler d 14-Teils; ein Statement-Marathon mit 13 Redebeiträgen und einem vierteiligen Violinkonzert von Ali Moraly. Szymczyk hatte zusammen mit einem Teil seines Kuratorenteams auf der Bühne Platz genommen. Er selbst fasste sich relativ kurz und bestätigte so den Eindruck der Introvertiertheit, den ihm die Medien bereits angeheftet hatten. Um so ausführlicher referierten die Kuratoren in seinem Team wie Dieter Roelstraete über die intellektuellen Projektionen, die seit Johann Joachim Winckelmann und den Philosophen des deutschen Idealismus auf das antike Griechenland geworfen wurden, oder Hendrik Folkerts über die Erkundung urbaner Umgebung durch eine praktische Anwendung von Lucius Burckhardts Spaziergang-Philosophie am Beispiel der Kasseler Nordstadt und ihrer Industriegeschichte. Der Kasseler OB Bertram Hilgen (SPD) bekannte sich ausdrücklich zu dieser Doppel-Documenta: die Findungskommission habe Adam Szymczyk als d-14-Leiter vorgeschlagen „im Wissen, dass Athen ein zweiter Ort sein würde“, und der Aufsichtsrat habe „diese Entscheidung mit Überzeugung mitgetragen“. Denn, so Hilgen, wo „das Projekt der europäischen Einigung“ aktuell „Gefährdungen ausgesetzt“ sei, verkörpere gerade diese Documenta „ein Stück Hoffnung“. Man habe sich bewusst für Athen als zweiten Ausstellungsort entschieden, denn es sei „das Zentrum der kränkenden Debatten über die wirtschaftlichen Krisen in Europa“, ergänzte Paul P. Preciado, Kurator für die öffentlichen Programme. Die Ausstellung sei – in metaphorischer Anspielung an George Orwell – eine „Rebellion auf dem Museumsbauernhof“. Athen sei sowohl ein physischer Ort als auch ein Knotenpunkt der kapitalistischen Machtverhältnisse. Hortensia Völckers von der Bundeskulturstiftung indes sieht den Sinn der d 14 vor allem in der „Veränderung des eurozentrischen Blicks“. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung formulierte sein Anliegen etwas radikaler: „Wir leben in einem Zeitalter der Unsicherheit, und ich plädiere für mehr Aufsässigkeit“. Unsicherheiten würden „der Welt als Sicherheiten“ verkauft, so wie der US-Präsident Donald Trump versichert, es gäbe keinen Klimawandel, oder so, wie manche Politiker Afghanistan in der Abschiebepraxis als „sicheres Herkunftsland“ einstuften. Fast alle d 14-Kuratoren, die zu Wort kamen, formulierten Ansprüche an einen explizit politischen Charakter und emanzipatorischen Impetus der gezeigten Kunst. Adam Szymczyk: „Die Arbeit an der Documenta hat uns darin bestätigt, dass wir von Anfang an gegen die Interpretation von Kunst eingestellt waren. Wir sind davon überzeugt, das, was wir wissen, ‚entlernen‘ zu müssen. Die größte Lektion hier ist, dass es keine Lehrmeister gibt, die uns sagen, wie man leben muss. Wir müssen Energien mobilisieren, um wieder zum politischen Subjekt zu werden“. Derlei Anforderungen fanden freilich nicht ungeteilten Beifall: ein Journalistenkollege empfand den Auftritt des d14-Teams eher als ein „Politbüro privilegierter Moralisten“, und der emeritierte Kunstprofessor Heiner Georgsdorf fühlte sich bei Bonaventures Referat gar an eine „Sonntagspredigt“ erinnert. Die Kasseler selbst reagieren indessen auf das Doppel-Spektakel und seine Politisierung sonst ziemlich gelassen: „Die documenta muss ja auch mal was Neues wagen“, findet ein Taxifahrer.


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